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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Splett, Jörg

Titel/Untertitel:

Denken vor Gott. Philosophie als Wahrheits-Liebe.

Verlag:

Frankfurt/M.: Knecht 1996. 344 S. 8°. Lw. DM 48,­. ISBN 3-7820-0737-9.

Rezensent:

Günther Pöltner

Bei vorliegendem Werk handelt es sich um eine in Buchform umgegossene Sammlung bereits veröffentlichter Arbeiten des Vf.s. "Denken vor Gott" intendiert zweierlei: zum einen, "von und über Gott zu sprechen ­ obwohl schon dies (jedenfalls bzgl. Gottes ohne Artikel) unter Philosophen unüblich geworden ist" (12), und zum anderen den Aufweis derjenigen Grunderfahrungen, deren methodisch-kritische prinzipielle Auslegung Sache der Philosophie ist ("auf welche Instanz beruft sich, wer weder fiktional erzählen noch nur technisch praktische Vorschläge machen will, sondern prinzipiell zu reflektieren und grundsätzlich zu argumentieren beansprucht ?", 12).

Im ersten Teil ("Plädoyer") geht es um "Philosophie als Gottesdienst" ­ dies freilich nicht als Aufhebung von Religion in Philosophie (Hegel), sondern als Nach-Denken dem "Unvordenklichen" (13). Das bedeutet hinsichtlich der Religion: Es wird ihr weder ein funktionalistisches Verständnis, noch auch schon jener Begriff gerecht, der sie als "Bewußtsein radikaler Endlichkeit und der realen Überwindung dieser Endlichkeit" (37) bestimmt. Denn "die religiöse Kern-Wahrheit" (32) bildet letztlich nicht das Heil des Menschen, sondern die selbstvergessene "Anbetung des Göttlichen", der "Lobpreis Gottes" (44). Und es bedeutet hinsichtlich der Philosophie, nicht die "Selbstverstümmelung" (64) zum Programm zu erheben und infolge davon in Beliebigkeit zu versinken, sondern sich den "Kernfragen" (65) zu stellen. Philosophie ist nicht gleichgültiger Umtrieb in Meinungen, vielmehr erhebt sie einen Wahrheitsanspruch. Sie wird in Freiheit vollzogen und "geschieht in Willensstellungnahmen. Und diesem Willen hat es darum zu gehen, ’der Wahrheit die Ehre zu geben’" (68) ­ was nichts mit fundamentalistischem Wahrheitsterrorismus zu tun hat.

Splett widerlegt die heute weit verbreiteten Meinung, Menschlichkeit lasse sich nur "durch Verzicht auf Wahrheitsansprüche bewahren" (46). Sich als Toleranz mißverstehende Gleichgültigkeit sowie Agnostizismus und Relativismus sind keineswegs "neutral-objektiv" (30), weil sie aus Entschiedenheit bezogene Positionen darstellen, die rechtfertigungspflichtig bleiben. Flucht vor der Wahrheit ist keineswegs Schutz, sondern Zerstörung von Humanität, weil sie Grundbegriffe der Praxis bedeutungslos macht. Ist nämlich nichts wahr, "ist eben nicht bloß möglicherweise, sondern ipso facto alles erlaubt" (55). Demgegenüber ist erneut daran zu erinnern, daß es ernsthaftem Philosophieren nicht um zweckrationale Lebensanpassung oder bloß um Statistik zu tun ist, und daß "nicht irgendein Vermögen, sondern der Mensch selbst, in seinem vom Gewissen bestimmten Person-Kern" (11) philosophiert. Einen Wahrheitsanspruch erheben heißt immer auch, sich ihm unterstellen: "Gemeint ist ein ergreifendes Sich-Ergreifen-Lassen oder sich ergreifen lassendes Ergreifen" (73). Wirkliches Philosophieren impliziert "Selbstachtung" des Denkens und benötigt "Gewissen und Gewissenhaftigkeit im Denken" (269), wozu konsequenterweise gehört, die Gewissenserfahrung nicht weg zu erklären, sondern sie zu erklären (106). (Das dritte Kapitel "Vernunft im Dienst ’vernünftigen Dienstes’" geht diesbezüglich auf den Religions- bzw. Gewissensbegriff von Kant und Levinas ein.)

Im zweiten Teil ("Zeugen") werden gewonnene Einsichten in das Gespräch mit Sokrates, Dante, Newman, von Balthasar und Rahner eingebracht und im dritten Teil ("Selbst-Mitteilung") vertieft. Dessen zentrale Themen bilden das Erscheinen Gottes ("Das Ärgernis von Gottes Menschlichkeit"), das Theodizeeproblem ("Sprachlos vor Leid und Schuld?") sowie der Begriff der "Gnade". Die Besinnung auf letztere ("eine ’altmodische Kategorie’?", 313) steht zwar am Ende der Sammlung, bildet aber in Wahrheit den Mittelpunkt, um den sich das "Denken vor Gott" bisher schon bewegt hat. Gnade bildet nämlich nicht erst einen Pol in dem Gegensatz "natürlich ­ übernatürlich", sondern bereits seinen Unterscheidungsgrund. Denn zu sein heißt für Seiendes ­ radikal gedacht ­ immer schon: sein-können als sein-dürfen. S. spricht von der "Gnade des Daseins": "Grundlegende Gnaden-Erfahrung ... ist die eigene Existenz" (317) ­ und dies nicht aus Blindheit gegenüber der Last und den Schrecknissen dieser Welt, sondern wohl wissend um den Protest gegen solch eine Rede, der geboren ist aus dem "unausrottbaren Argwohn der Weltweisheit in Ost und West, daß da zu sein in Wirklichkeit ein Unglück sei, nicht geboren zu sein das beste" (120).

In der Tat: Wer vom Gabe-Charakter des Seins spricht, dem wird für gewöhnlich von philosophischer Seite Naivität und illusionäre Flucht in eine "Heile-Welt-Ideologie" unterstellt und darüber hinaus zuweilen von theologischer Seite mit dem Hinweis auf die Leidensgeschichte der Menschheit das Betreiben einer unkritischen "Sonntags-Metaphysik" vorgeworfen. ­ S. stellt sich diesen Einwänden auf vielfältige Weise, was hier naturgemäß im einzelnen nicht nachgezeichnet, sondern nur in Form von Hinweisen angedeutet werden kann. Zu bedenken ist die Erfahrung positiver Kontingenz, nämlich "daß ist, was ist, obwohl nichts sein müßte" (301), näherhin die Erfahrung, daß es uns gegeben ist, dem Anruf zum Tun des Guten entsprechen zu können, genauer: zu dürfen ("daß man menschlich sein soll, ist etwas, was man darf", 322). Im Tun-Dürfen des durch sich selbst gerechtfertigten Guten liegt die Würde jedes einzelnen Menschen, die weder eine naturale Ausstattung ist, noch der Zuerkennung durch andere entstammt, sondern ihren Ursprung in der schöpferischen Allmacht Gottes hat (319). Die Schöpfung als solche ist bereits "freie Gnadentat" (330). Verdankt sich aber die Wirklichkeit insgesamt Gottes "Freigebigkeit" (320), und ist das "Werdegesetz der Welt ... nicht Bedürfnisse, Triebdrang und zu wendende Not" (320), wirft sich das Theodizeeproblem auf. Dieses "ist in der Tat unlösbar. Eben darum aber sollte man sich auch den Lösungsversuch durch Leugnung Gottes versagen. Er unterbietet das Frageniveau ­ und nimmt übrigens Ijob zu allem anderen noch seine Würde: Sein Protest wird Irrtum, sein Appell an den Heiligen anthropomorph, seine Hoffnung kindliche Illusion" (308). Deshalb darf die Doppelfrage des Boethius: "Wenn es Gott gibt, woher Übel und Böses?­ Wenn es Gott nicht gibt, woher das Gute?" nicht abgespannt werden. Auf die erste Frage muß mit Nicht-Wissen geantwortet werden ­ nicht so auf die zweite: "Sehr wohl nämlich wissen wir: Wenn kein Gott ist, dann gibt es ­ letztlich ­ kein Gutes" (308). S. verschreibt sich bezüglich der ersten boethianischen Frage weder dem philosophischen Konzept einer Selbstentmächtigung Gottes (Hans Jonas), noch der theologischen Auskunft, der in Christus mitleidende Gott sei die "endgültige Antwort auf die Theodizeefrage" (Walter Kaspar). Ersteres verschafft Gott keine Entlastung, denn "diese Ohnmacht hätte niemand anderer zu verantworten als Er" (300). Letztere beraubt die Opfer jedweder Hoffnung, sollte Gottes "Sympathie die ’endgültige’ Antwort" bleiben ­ und nicht die Selbstrechtfertigung Gottes (299). Die Antwort auf die Frage, warum Gott Leid und Böses zuläßt, kann niemand anderer als Er selbst geben. Darauf vertraut der Glaubende.

Freilich: "Wie Gott dies könne, angesichts der Schrecklichkeiten in Welt und Geschichte, weiß der Glaubende nicht" (309 f.). Er muß dies auch nicht wissen, "um dennoch verantwortet hoffen zu können" (311). Dem Glaubenden ist ja nicht erst "das Wie einer schöpferischen Verwandlung von allem (Offb 21) ..., sondern schon das Wie der ’ersten’ Schöpfung" und seine eigene Existenzwerdung ­ "daß aus der Verschmelzung zweier Gameten ein Wesen von Würde hervorgeht" ­ unzugänglich (311).

S. fragt zu Recht, inwieweit "die häufig angemerkte und beklagte Wirkungslosigkeit, die ’akademische’ Funktionslosigkeit der Philosophie nicht in Wahrheit mit dem ­ wissentlichen­ Verzicht auf die großen Grundfragen" zusammenhängt (65). Solch einen Verzicht leistet "Denken vor Gott" keineswegs. Es ist unzeitgemäß im besten Sinn ­ es versucht, der "Wahrheit die Ehre" zu geben.