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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

572–574

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Bahr, Petra, u. Hans Michael Heinig [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XIII, 417 S. gr.8° = Religion und Aufklärung, 12. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149021-7.

Rezensent:

Christoph Goos

Um die Menschenwürde ging es bei einem »bidisziplinären Streitgespräch«, zu dem die Herausgeber – sie ist Theologin und Kulturbeauftragte des Rates der EKD, er ist Jurist und wissenschaftlicher Assistent an der Universität Heidelberg – im Februar 2005 nach Heidelberg eingeladen hatten. Wie hoch das Niveau war, auf dem »gestritten« wurde, zeigt der vorliegende Band.
Einer knappen Einführung der Herausgeber folgt eine glänzende ideengeschichtliche Studie des Heidelberger Theologen Stephan Schaede (7–69), der zur Vorsicht im Umgang mit Ursprungslegenden mahnt. Zu den spezifisch christlichen Einsichten rechnet er die Überzeugung, dass alle – nicht nur einige Menschen – über gleiche Würde verfügten und dass diese nichts sei, was sich der Mensch zu erarbeiten habe (67). Das deckt sich mit einer der »Vorerinnerungen an die Horizonte des Würdebegriffs«, die der Hamburger Systematiker Michael Moxter zu dem Band beigesteuert hat: »Indem dignitas zur theologischen Metapher wird, ergibt sich ein Bedeutungsgewinn, der den Würdediskurs auf Unbedingtheit und Kontrafaktizität umstellt.« (78) Der Hannoveraner Staats- und Euro­parechtler Ulrich Haltern vertritt die These, dass Menschenwürdesätze in Rechtstexten »Hierophanien« seien, »also Manifestationen des Heiligen, das Staatlichkeit nach wie vor ausmacht« (93). Der Münsteraner Völker- und Europarechtler Christian Walter verschweigt nicht, dass das Schutzgut der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie in Rechtsprechung und Schrifttum in geradezu singulärer Weise unbestimmt und vage geblieben ist (131), und der Basler Ethiker Georg Pfleiderer legt einen »Deutungsvorschlag in rechtstheologischer Absicht« vor, in dem er den Rechtsbegriff als »Chiffre für die konstitutive Selbstöffnung des Rechtssystems auf den diskursiven Raum der Wissenschaft (Ethik) und die symbolisch-diskursiven Räume wertgeleiteter Lebenswelt (Moral) sowie der Religion und der auf sie bezogenen Theologie hin« interpretiert (163).
»Relative Absolutheit« nennt der Göttinger Ethiker Rainer An­selm seinen Versuch, »den Unbedingtheitsanspruch des Menschenwürdearguments in der Aufforderung zu einer ethischen Reflexion zu sehen, die ihre eigene Perspektivität selbstbegrenzend anerkennt und zugleich dialogisch zu erweitern sucht dadurch, dass sie ihre Orientierungskraft an bestimmte Rahmenbedingungen zu knüpfen bereit ist« (190). Die Menschenwürde sei – als Analogon zur gnädigen Zuwendung Gottes – »Ergebnis sozialer Zu­erkennung« (193 f.). Die Präimplantationsdiagnostik sei daher ethisch »eher vertretbar« als Spätabtreibungen, da die Eltern, die sich zur PID entschlössen, dem ungeborenen Leben »wohl« noch keine Würde zuschrieben (194). Weitgehend folgenlos bleibt leider die Erkenntnis, dass Würde auch stellvertretend zugeschrieben werden kann (195). Den Terminus »Zuerkennung« verwendet auch der Göttinger Staatsrechtler Werner Heun. Für ihn ist der Schutz vor menschenverachtender Demütigung Kern der Menschenwürdegarantie, weshalb die Zuerkennung und Verletzbarkeit derselben »jedenfalls prinzipiell Ich-Bewusstsein, Selbstbestimmungsfähigkeit und Vernunft« voraussetze (209 f.). Leider bleibt offen, was aus der Annahme eines »vollen« Würdeschutzes (erst) ab Ausdifferenzierung des Gehirns (211) für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik, therapeutischem und reproduktivem Klonen folgt – und ob sich das geltende Abtreibungsrecht damit verträgt.
»Das absolute, abwägungsfeste Verbot der Menschenwürdeverletzung im Recht ist gegenüber ethischen Antworten auf dieselbe Frage neutral«, behauptet der Bochumer Rechtssoziologe Ralf Poscher in seinem Beitrag über die »Menschenwürde im Staatsnotstand« (221). Auch aus konsequenzialistischer Perspektive könne man für die rechtliche Tabuisierung der Folter sein – und darauf setzen, dass sich im Einzelfall jemand finde, »der die ethische Entscheidung und die damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen auf sich nimmt« (220). Dass von einer »ethischen« Entscheidung für die Folter indes keine Rede sein kann, zeigt der Zürcher Sozialethiker Johannes Fischer, der subtil zwischen der Begründung einer Handlung durch geltende moralische Standards einerseits und dem Rechenschaft-Ablegen bezüglich einer Handlung vor geltenden moralischen Standards andererseits unterscheidet (246 f.). Letzteres sei nicht mehr Sache der Ethik (248), und überhaupt sei es ein Irrtum, dass es für alles – auch für Dilemmasituationen – eine ethische Lösung geben müsse (244).
»Eher ernüchternd« fällt Hans Michael Heinigs Zwischenbilanz zur rechtspraktischen Bedeutung der Menschenwürde im Kontext »Menschenwürde und Sozialstaat« aus (278). Mehr Autonomie im Gesundheitswesen könne die Würde der Patienten und Beitragszahler stärken, aber auch schwächen, weil sie einen Teil der Bevölkerung tendenziell überfordere (294 f.). Der Heidelberger Systematiker Joachim von Soosten betont im gleichen Zusammenhang mit Recht die »ökonomiekritische Pointe« des Kantschen Würdekonzepts (301). Wichtig und richtig ist auch sein Hinweis, dass die en­gere Vorgeschichte des Würdebegriffs für die Formulierung des ersten Grundgesetzartikels noch immer nicht aufgearbeitet ist (304). Mit der Menschenwürde im Medienrecht befasst sich der Gießener Staatsrechtslehrer Martin Eifert. Er betont den »freiheitlichen Ansatz des Grundgesetzes insgesamt« (330) und hält deshalb die (leider nicht abgedruckten) Vorschriften des Jugendmedienschutzstaatsvertrages, die menschenwürdewidrige Darstellungen auch dann untersagen, wenn sie rein virtueller Natur sind oder der Dargestellte eingewilligt hat, für verfassungswidrig (333) – ein Ergebnis, über das man trefflich streiten kann.
Dass Medien auch trösten und Menschen die Angst vor einem würdelosen Sterben nehmen können, zeigt der Würzburger Systematiker und Schriftsteller Klaas Huizing in seinem Essay »Six Feet Under« anhand der gleichnamigen Fernsehserie und Linn Ullmanns bemerkenswertem Roman »Gnade« (335–349). Der Heidelberger Jurist und Soziologe Jürgen Bast weist in seinem Beitrag über die Menschenwürde und den Umgang mit Fremden auf das Spannungsverhältnis zwischen dem differenzierungsfeindlichen Würdepostulat des Grundgesetzes einerseits und der staatskonstitutiven Unterscheidung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen andererseits hin (353–365). Anregend, aber auch schwer zugänglich sind die Überlegungen des Zürcher Hermeneutikers und Religionsphilosophen Philipp Stoellger zum Thema »Fremdwahrnehmung«, in denen die Würde des Menschen als »Inbegriff der Selbstverständlichkeit, mit der wir dem Fremden begegnen und er uns«, entfaltet wird (373).
Der gesellschaftliche Würdediskurs vereinfache, emotionalisiere, liebe starke Bilder, habe eine gehörige Neigung zur Unschärfe und halte sich nicht an die Grenzen von Recht, Moral, Politik und Religion, schreibt Petra Bahr in ihrem Ausblick (409). Das stimmt, und die Beiträge in diesem Band heben sich ohne Ausnahme wohltuend davon ab. Allerdings: Beispiele für die von Schaede mit Recht gegeißelte falsche theologische Bescheidenheit mancher ethischer Stellungnahmen (9) finden sich auch hier, und die juristischen Beiträge kranken zum Teil daran, dass sie sich eher auf die Beschreibung der (mutmaßlichen) Funktion des ersten Grundgesetzartikels zurückziehen als die Bedeutung der Rechtsnorm zu erhellen. Verfassungstheorie aber kann Verfassungsauslegung nicht ersetzen. Andernfalls bleibt weiter im Dunkeln, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes eigentlich regeln wollten mit der Vorschrift, die sie als den »Schlüssel für das Ganze« (Carlo Schmid) ansahen.