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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

567–570

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hohage, Gerrit

Titel/Untertitel:

Predigen im Spannungsfeld von Amt und Person. Ein Versuch, Luthers Amts- und Schlatters Personverständnis homiletisch ins Gespräch zu bringen.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2005. XI, 384 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-7887-2127-8.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Die homiletische Frage nach dem Prediger bzw. der Predigerin als Person versucht die bei Christian Möller in Heidelberg betreute Dissertation im Rahmen systematisch-theologischer Überlegungen zum Predigtamt sowie zum Personbegriff zu verorten und von dort aus neu zu bestimmen. Im Zentrum steht die Rekonstruktion von Luthers Amts- und Schlatters Personverständnis (Teil II; 59–264); von hier aus formuliert H. Folgerungen im Blick auf das Beziehungsgefüge der Predigt sowie die konkrete Predigtarbeit (Teil III; 265–359). Vorangestellt ist ein problemgeschichtlicher Abriss zur Bedeutung der Person in der Homiletik seit Luther (Teil I: 1–58), der die Notwendigkeit der Untersuchung begründen und ihre Fragestellung präzisieren soll. Im Effekt verbindet die Studie ein wissenschaftstheoretisches und ein praktisches Anliegen. Wissenschaftstheoretisch geht es H. um eine Überwindung der herkömmlichen Unterscheidung von fundamental- und materialhomiletischer Argumentation, d. h. von theologischen Fragen nach dem Wesen der Predigt und homiletischen Überlegungen zu konkreten Faktoren des Predigtgeschehens, da das Thema der Predigtperson »in der theologischen Kernthematik« (57) verankert sei. In praktischer Hinsicht mündet H.s Studie in ein Plädoyer für eine aktiv gestaltete vita christiana des Predigers als Basis rechter Predigt. Beide Anliegen verstehen sich in der gegenwärtigen Homiletik nicht von selbst. So gehört die Unableitbarkeit materialhomiletischer Fragen aus der Wesensbestimmung der Predigt seit Jahren zu den Standardüberzeugungen der Homiletik; und die Frage nach der Frömmigkeitspraxis Predigender bildet in der Debatte um die Person des Predigers eine Facette, die seit Otto Haendlers Abhandlung nur wenig Beachtung gefunden hat.
Man muss diesen Kontrast zur gängigen Forschung im Auge behalten, will man der Studie gerecht werden. Ihr Beitrag zum fach­wissenschaftlichen Diskurs lässt sich schon darum schwer einordnen, weil das Gespräch durch Abgrenzungen und Missverständnisse belastet ist bzw. – vor allem im dritten Teil der Studie – kaum gesucht wird. Bezugspunkte und Übereinstimmungen geraten auf diese Weise ebenso aus dem Blick wie Wiederholungen und gelegentliche Rückschritte hinter anderweitig bereits Erreichtes. Exemplarisch zeigt sich das im problemgeschichtlichen Abriss zur Predigerperson. Zwingt schon die Entscheidung, auf knapp 50 Seiten den Zeitraum von der lutherischen Orthodoxie bis zur Gegenwart zu durchmessen, zu episodischer Auswahl, so erstaunt die Gewichtung für die jüngere Homiletik: Barth, Denecke und Lange werden ausführlich thematisiert, während Thurneysen, Urner und Bonhoeffer allenfalls in Anmerkungen zu Wort kommen. Insbesondere fehlt jedoch Otto Haendler, dessen Homiletik eine zentrale Wegmarke zur untersuchten Fragestellung darstellt und gerade im Blick auf H.s theologisches Anliegen von Bedeutung wäre. Freilich: Auch innerhalb der kritischen Referate, etwa zu Lange und Denecke, zeigen sich Einseitigkeiten. So führt der Versuch, das »homiletische Dreieck« als universale Balancewaage homiletischer Entwürfe zu verwenden, dazu, dass die Bedeutung des Textes bei Lange signifikant unterschätzt wird (44). Und die Kritik, Deneckes Rezeption von Riemann erhebe den kranken Menschen zum Maßstab (50), übersieht sowohl den Anspruch Riemanns, mit den »Grundformen der Angst« allgemeinmenschliche Grunderfahrungen zu beschreiben, als auch die heuristische Funktion psychologischer Einsichten im homiletischen Kontext: Riemann, Berne oder C. G. Jung für die Homiletik fruchtbar zu machen, muss noch keineswegs bedeuten, ihren »Personbegriff« in globo zu übernehmen, wie H. neueren Predigtlehren vorwirft (156).
Im Interesse einer theologischen Fundierung der Fragestellung rekonstruiert H. im zweiten Teil der Arbeit Luthers Amtsverständnis (59–147) sowie Grundzüge der Anthropologie Adolf Schlatters (155–228). Die umfangreiche Erschließung etwa zu Luthers Amtstheologie bietet einen gründlichen Aufweis des Zusammenhangs zwischen Rechtfertigungsgeschehen, Schriftverständnis, Amtstheologie und Predigtverständnis, den H. unter dem Begriff »apostolische Sukzession des Wortes« (77) fasst. Nun geht es freilich der Studie nicht um theologiegeschichtliche Explorationen, sondern um eine Gewinnung von Einsichten für die gegenwärtige Predigtlehre; und in dieser Perspektive vermisst man gründlichere hermeneutische Überlegungen zu Luther, die den historischen Graben nicht kurzerhand zuschütten mit der Auskunft: »All dies gilt auch für heutige Prediger der Kirchen der Reformation« (144). Andererseits fällt es mir in dieser Perspektive schwer, die Wahl von Schlatters Anthropologie als Zu­gang nachzuvollziehen. Gerade wenn man, wie H., jenseits »humanwissenschaftliche[r] Lehnkonzepte« einen Personenbegriff »in theologischer Perspektive, aber integrativ« (156f.) sucht, scheint es mir näherliegend, zeitgenössische Konzepte theologischer Anthropologie heranzuziehen.
An der Scharnierstelle zwischen dem zweiten und dem dritten Teil der Arbeit stehen Überlegungen zum Zusammenhang von Verstehen und biographischer Erinnerung (Kapitel 6) sowie zum Relationsgefüge der Predigt (Kapitel 7). Dabei führt H.s Abgrenzungsinteresse bisweilen zu signifikanten Fehlurteilen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Predigt lässt sich natürlich als Beziehungsgeschehen zwischen Gott, dem Prediger und dem Hörer beschreiben und – trotz mancher Rückfragen – wohl auch in Form des von H. entworfenen »homiletische[n] Doppeldreieck[s]« (vgl. 272, Abb. 5) darstellen. In der Polemik gegen das herkömmliche Dreieck Hörer/Prediger/Text blendet H. freilich nicht nur die heuristische Aufgabe solcher Modelle aus, sondern verfängt sich zugleich im Geflecht zwischen fundamental- und materialhomiletischen Fragestellungen: »Ein Schema der Predigtfaktoren, in dem die Person Gottes nicht vorkommt, ist, als hätte man dem reformatorischen Pre­digtverständnis das Herz amputiert!« (269) Mitnichten! Schließ­lich – um im Bild zu bleiben – suchen wir bei Sehschwächen auch den Augenarzt auf, ohne dabei den das Auge am Leben erhaltenden Pulsschlag zu verleugnen oder den Kardiologen zu scheuen. Welche Faktoren des Predigtgeschehens man jeweils in welcher Dreiecksbeziehung darstellt, ist darum weniger eine Frage theologischer Standpunkte als eine Frage des leitenden Untersuchungsinteresses.
Der dritte Teil der Studie zieht aus dem bisher Gesagten praktische Schlüsse im Blick auf Predigtaufgabe (Kapitel 8) und konkrete Predigtarbeit (Kapitel 9). Die Predigtaufgabe sieht H. im »Öffnen eines Raumes, in dem die Beziehung zwischen dem Hörer und Gott geschehen kann« (300; vgl. den Exkurs zur semiotischen Homiletik, 321–324). Daran schließen sich Hinweise an zur Bedeutung des Willens (311 ff.) sowie zur Predigterarbeitung (325 ff.). Ungeachtet ihres Erfahrungsgehalts: Die allzu individuell-handwerklichen Tipps, die fast völlige Ausblendung anderweitig gewonnener Erkenntnisse und die bisweilen an Erbauungsliteratur gemahnende Sprache bleiben merklich hinter dem Niveau der theologiegeschichtlichen Erörterungen des zweiten Hauptteils zurück. So vermag angesichts fundierter Überlegungen zum menschlichen Willen etwa bei Oskar Pfister­ (1904) die Aufforderung nicht recht zu befriedigen, »mit meiner unmittelbaren Wirkabsicht in bezug auf die Menschen einen Schritt zurückzutreten und stattdessen Gott Raum zum Wirken zu geben. In solchem Zurücktreten gebe ich meinen Willen hinein in Gottes Willen.« (319) Dass ein geistliches Leben gerade da für den Prediger bzw. die Predigerin von Bedeutung ist, wo es die schmerzhafte Auseinandersetzung mit sich selbst einschließt – in den Worten H.s: wo das »Lebenspäckchen aufgeschnürt wird« (340 u. ö.) –, lässt sich eindrücklich bei Haendler lernen, auf den gerade in diesem Zusammenhang unter keinen Umständen verzichtet werden kann. Und die das ganze Buch durchziehende Transparenzmetaphorik – das Wort soll durch den Prediger »hindurchgeh[en], sich in seine Worte und Gedanken kleidend« (155) – resultiert am Ende in einer Anleitung zur Schriftlektüre, die jedwedes hermeneutische Bewusstsein vermissen lässt: »In der Exegese prallen die biblischen Texte auf die Weltbilder unseres Kulturkreises, und es ist eine Entscheidung, also eine Frage der Haltung, ob ich sie als ›zeitbedingt‹ betrachte und mich ihrer Anrede entziehe oder ob ich mich von ihnen kritisieren und in eine mir fremde Wahrheit hineinführen lasse ...« (343) – etsi Bultmann non daretur.
Das Buch greift mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Predigt und Lebenspraxis des Predigers eine wichtige und weithin unterschätzte Frage auf. Und sicher wird die Frage nach einer vita christiana des Predigers bzw. der Predigerin nicht beantwortet werden können, ohne nach Formen einer schriftbezogenen Frömmigkeit zu fragen. Freilich: Auch die frömmste Bibellektüre ist noch kein supranaturales Werkzeug, um unmittelbar in die Transzendenz zu greifen oder die Transzendenz besonders effektiv an sich wirken zu lassen, sondern ganz und gar kommunikatives Ge­schehen unter den Bedingungen irdischer Kommunikation. Über methodische Sauberkeitsgebote hinaus begründet daher theo­logisch die Einsicht in die Unverfügbarkeit Gottes die Unterscheidung zwischen fundamental- und materialhomiletischen Aussagen. Wenn aber für spirituelle Übungen keine Sonderbedingungen gelten, so macht das die praxis pietatis prinzipiell wissenschaftlicher Beschreibung zugänglich. Allein die Solidität, mit der etwa Haendler die Meditation im Horizont der Tiefenpsychologie erschlossen hat, wäre dabei Grund genug, das Klischee von der »hilflosen Selbstauslieferung der Theologie« (160) an die Humanwissenschaften endlich zu den Akten zu legen.