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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

562–565

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Garhammer, Erich, Roth, Ursula, u. Heinz-Günther Schöttler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kontrapunkte. Katholische und protestantische Predigtkultur.

Verlag:

München: Don Bosco 2006. 366 S. m. Abb. gr.8° = Ökumenische Studien zur Predigt, 5. Kart. EUR 22,50. ISBN 978-3-7698-1569-6.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Die Herausgeber dieses Buches, der katholische Pastoraltheologe Erich Garhammer (Universität Würzburg), sein Fachkollege Heinz-Günther Schöttler (Universität Bamberg) und die evangelische Praktische Theologin Ursula Roth (Universität München), sind Mitglieder der 1970 gegründeten ökumenischen »Arbeitsgemeinschaft für Homiletik« (AGH). Dieser nunmehr fünfte Band der aus der Arbeit der AGH hervorgegangenen »Ökumenischen Studien zur Predigt« stellt den Versuch dar, die katholische und protes­tantische Predigtkultur genauer in den Blick zu bekommen, d. h. ihre Merkmale zu beschreiben, zu definieren und zu vergleichen. Dieses inhaltlich ausgesprochen dialogisch angelegte Buch ist also um eine Art Bestandsaufnahme dessen bemüht, was auf katholischer und evangelischer Seite im Kern unter Predigt verstanden, homiletisch gelehrt und praktiziert wird.
Damit wird eine konfessionell vergleichende, kriteriologische Innenansicht gegenwärtiger Predigtlehre vorgenommen. Dieses Anliegen ist eine plausible Ergänzung zu den letzten drei Bänden, in denen in stärkerem Maße die »kulturellen Räume der Gesellschaft« (Bd. 2), die Funktion der Kasualpredigt (Bd. 3) und der kultisch-kulturelle Kontext des Sonntags im Blick waren (Bd. 4). Darüber hinaus schließt dieses Buch eine Lücke in der homiletischen Diskussion überhaupt. Es ist meines Wissens die erste Publikation, die sich auf der Basis eines ökumenischen Dialogs mit den Prolegomena und Gestaltungsprinzipien der Predigtlehre auseinandersetzt.
Das Werk ist in fünf Teile gegliedert: Es setzt mit (I.) zwei Lexikonartikeln (»Predigt, protestantisch« und »Predigt, römisch-ka­tholisch«) sowie mit zwei »biographischen Zugängen« ein (16–36), an die sich (II.) eine Erörterung der Wurzeln evangelischer und katholischer Predigtkulturen anschließt (38–125). Nach einem (unverständlicherweise mit »Intermezzo« überschriebenen) Kapitel zur Geschichte und Funktion des Predigtortes sowie zur Semiotik der Gestaltung und Platzierung von Kanzeln befasst sich der umfangreichste Teil des Buches (III.) mit den »Gestalten« und Strukturmerkmalen der beiden Predigtkulturen, wobei das Verhältnis der Predigt zur Liturgie eine besondere Rolle spielt (150–272). Grundsätze und Erfahrungen der katholischen und evangelischen Ausbildungspraxis (IV.) und zwei abschließende, als »Epilog« bezeichnete Verortungen (V.) der Predigt im theologischen Profil der beiden Konfessionen runden das Buch ab (274–319.322–363).
Im I. Teil sticht der Beitrag von Fulbert Steffensky (»Die katholische und die evangelische Predigt«) nicht nur durch seine Länge heraus. Der Vf. hat Erfahrungen mit beiden Gottesdienst- und Predigtkulturen gemacht. Er vermag sie vortrefflich in ihren Stärken und Schwächen zu porträtieren und kommt zu der anregenden Auffassung, sie gewissermaßen als unterschiedliche Charismen zu begreifen, was u. a. daran hindern soll, sie zu überfordern: »Beide brauchen eine Art Deflation. Von der römischen Sakramententheologie wünsche ich, dass sie ihre sakramentale Massivität und ihre Konzentration auf Wandlung, Hostie und Priestervollmacht mindert (während ich hoffe, dass die evangelische Praxis lernt, die Elemente zu ehren). Von der evangelischen Gottesdienstauffassung wünsche ich, dass sie die Sakramentalisierung der Predigt aufgibt. Predigt ist Rede, das reicht. Es ist die Rede eines Menschen, der sich bemüht, die Gegenwart ins Gespräch zu bringen mit jener alten Tradition des Trostes und der Schönheit. Die Predigt ist das Wort eines Menschen, es ist nicht das Wort Gottes. Dies zu wissen, würde die Prediger entlasten und andere gottesdienstliche Elemente hätten mehr Platz und Zeit« (36). Die übrigen Beiträge in diesem Kapitel stammen von Erwin Albrecht, Ursula Roth und Petra Zimmermann.
Im II. Teil des Buches, der den Wurzeln – und man muss hinzufügen: den Entwicklungen – der Predigtkultur gewidmet ist, spielt der Streit um den Fokus protestantischer und katholischer Predigtlehre eine zentrale Rolle. Zwei ausgewiesene Homiletiker – Klaus Müller (katholisch) und Jan Hermelink (evangelisch) – bemühen sich um eine Art Spurensicherung homiletischer Argumentation, wobei aus katholischer Sicht u. a. der Vernunft und dem Amt eine besondere Bedeutung zukommen, aus evangelischer Sicht der Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsgeschehen Predigt selbst. Eine sehr überzeugende, repräsentative Synopse dogmatischer Eckpunkte der Predigt bietet der an Luther, Schleiermacher und Barth orientierte Beitrag von Dietrich Korsch (Systematiker an der Universität Marburg). Der Vf. schlägt zum Teil ungewohnte Lesarten klassischer homiletischer Einsichten vor. Mit den Kate­gorien von »Selbstunterscheidung«, »Selbstmitteilung« und »Selbstbestimmung« arbeitet er eine vorzügliche fundamentalhomiletische Kriteriologie heraus (bes. 118–124).
Die Beiträge fordern auch dort zur Diskussion heraus, wo dies nicht in Form ausdrücklicher Response-Artikel berücksichtigt wer­den konnte. So entwickelt etwa der Aufsatz des katholischen Pfarrers und Dozenten Volker Sehy – mit Bezug auf Leben und Werk von Johann Michael Sailer (1751–1832) – en passant eine Art Phänomenologie authentischer Predigt und kommt in diesem Zusam­menhang (bezogen auf Sailer) zu dem Urteil, dass ein Prediger die Botschaft umso mehr beglaubige, »je mehr er zu verwirklichen sucht, was er sagt« (107). Wie aber könnte man z. B. die Botschaft von der Rechtfertigung »verwirklichen«?
Das Kapitel über die gestaltenden Elemente und signifikanten Strukturen beider Predigtkulturen (III.) enthält zunächst eine glänzend informierende, kritische, historische, hermeneutische und im Grunde liturgiedidaktische Erörterung des Verhältnisses von Predigt und Lesungen im evangelischen Gottesdienst (Michael Meyer-Blanck). Jörg Seip erörtert entsprechend die Richtlinien der neuen Leseordnung der katholischen Kirche. Stark an einem konsequenter gestalteten Zusammenhang von Predigt und Abendmahl im evangelischen Gottesdienst interessiert ist ein Artikel von Wolfgang Ratzmann: »Die Predigt als Element des protestantischen Gottesdienstes«. Jürgen Bärsch (katholischer Liturgiewissenschaftler an der Universität Eichstätt-Ingolstadt) legt eine subtile Bestimmung des inneren Zusammenhangs zwischen Predigt und katholischem Gottesdienst dar. Wichtige Ergänzungen bilden Thomas Bornhausers Darstellung der »Predigtkultur in der reformierten Tradition«, ein Beitrag, der erfreulicherweise um eine intensive Auseinandersetzung mit der kirchlichen Situation in der (deutschschweizerischen) Gesellschaft bemüht ist, sowie die aus der Gender-Perspektive geschriebenen Beiträge von Wiebke Köhler (evangelisch) und Christiane Bundschuh-Schramm (katholisch). Einen besonderen Platz im III. Kapitel nimmt die Darstellung der »Predigtkultur in der franziskanischen Tradition« von Franz Richhardt ein: Dem Leser wird eine Predigtweise vor Augen geführt, die nicht auf die Auflösung, sondern auf das Aushalten von Spannungen ausgerichtet ist.
Das IV. Kapitel vermittelt einen repräsentativen Einblick in die heutige Predigtausbildung an Katholisch- bzw. Evangelisch-Theologischen Fakultäten (Bernhard Spielberg bzw. Christian Stäblein/ Jan Hermelink) und Predigerseminaren (Helga Kramm). Eröffnet wird dieser Teil des Buches mit einem konzeptionellen Beitrag von Martin Nicol. Darin erörtert Nicol das Programm seiner dramaturgischen Homiletik und legt dar, wie es homiletisch zu bewerkstelligen sei, dass die Predigt nicht zu einem Vortrag über etwas gerate, sondern die Hörenden in ihr eigenes Leben hinein begleite.
Die im V. Kapitel skizzierten kulturellen Profile der Predigt sind ausgesprochen kenntnisreich dargestellt. Sie lassen die evangelische Predigt u. a. als »kultursynthetische Leistung« hervortreten (Martin Weeber). Für die katholische Predigt wird postuliert, dass sie – entsprechend den Bildprogrammen vieler Kanzeln – »›objektiv-gültige‹ Schriftauslegung in Verbundenheit und Bindung an die Lehre der Kirche« sei (Dominik Burkhard, 362) und in der katholischen Tradition, bei genauerem Hinsehen, große Wertschätzung genieße.
Allein die beiden zuletzt skizzierten Positionen lassen erahnen, dass sowohl der ökumenische als auch konfessionsinterne homiletische Diskussionsbedarf weiter fortbesteht. Vielleicht ist es der Suche nach einem gemeinsamen Faden und gemeinsamen Positionen geschuldet, dass so manche Prämissen katholischer und protestantischer Gottesdienst- und Predigtlehre in dem Buch selbst nicht weiter problematisiert wurden: Steht zum Beispiel die Art und Weise der katholischen Reintegration der Predigt ins liturgische Geschehen nicht in der Gefahr, ihr ihre prophetische, in gewissem Grade ›unkultische‹ Note zu nehmen und sie zu einem primär priesterlichen Akt zu machen? Es ist jedenfalls nicht nur »Würde«, sondern auch Bürde der Predigt, »selbst ein Element liturgischer Feier zu sein« (194) – die natürlich anderen Regeln als denen der freien Rede unterliegt. – Es dürfte denn auch kein Zufall sein, dass Dominik Burkhard auf den Prediger »als Vermittler zwischen Leben und Tod« Bezug nimmt (361). – Und in Richtung der evangelischen Predigtlehre gefragt: Schließen sich »Reflexionspredigt« und eine Predigt mit Verkündigungsideal wirklich aus? War die »Verkündigung« Jesu nicht im Kern eine (Lebens-)Lehre und als Verkündigung dadurch plausibel und wirksam, dass sie den Menschen etwas zu verstehen gab? Ist eine – nicht konfessionell gedachte – »evangelische« Predigt nicht erst dann »Verkündigung«, wenn sie in reflektierbarer Form zur Sprache bringt, was Leben ist, wie man aus Glauben leben kann, wie Leben sich ändern kann? Das ist mit bloßen Botschaften von der Rechtfertigung jedenfalls nicht zu schaffen.
In der Konzeption dieses thematisch kohärenten Sammelbandes wird auf eine Reflexion heutiger Anforderungen und legitimer kirchlicher oder gesellschaftlicher Erwartungen an eine Predigt weitgehend verzichtet. Dies ist in gewisser Weise dadurch gerechtfertigt, dass sich die letzten drei Bände der Reihe u. a. mit dieser Perspektive befasst haben; dennoch wäre es bedenkenswert gewesen, die katholische und protestantische Predigtkultur auch in ihren besonderen Leistungen (und Fehlleistungen) hinsichtlich aktueller Fragen der Lebensbewältigung bzw. in der Art ihrer Zeitgenossenschaft zu erörtern. In diesen Zusammenhang gehörte m. E. auch eine kritische Bestandsaufnahme gegenwärtiger protestantischer und römisch-katholischer Predigtpraxis – ein Gebiet, über das viel spekuliert, aber vergleichsweise wenig gewusst wird.
Gleichwohl ist ein lesenswerter und anregender Band entstanden, der dem Anspruch, »ein Kompendium zur katholischen und evangelischen Predigtkultur« (9) zu sein – so die Herausgeber im Vorwort –, durchaus gerecht wird. Das Buch ist vorzüglich redigiert. Angesichts der Fülle der Perspektiven und Kontexte wäre ein Personen- und Sachregister für die Arbeit mit diesem Werk eine große Hilfe.