Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

552–553

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Müller, Petro

Titel/Untertitel:

Gemeinde: Ernstfall von Kirche. Annäherungen an eine historisch und systematisch verkannte Wirklichkeit.

Verlag:

Innsbruck-Wien: Tyrolia-Verlag 2004. 1064 S. 8° = Innsbrucker theologische Studien, 67. Kart. EUR 79,00. ISBN 3-7022-2581-1.

Rezensent:

Siegfried Wiedenhofer

Diese umfangreiche (bei L. Lies an der Universität Innsbruck) angefertigte katholische dogmatische Habilitationsschrift will von Neu­em die Gemeinde (Ortsgemeinde, Gemeinde vor Ort) als zentrale ekklesiologische Größe, ja »als eigentlichen Ernstfall von Kirche« (16) in den Blick nehmen, und zwar angesichts einer weitgehenden Ausblendung des Themas in der heutigen Dogmatik (nach der intensiven Diskussion der 70er und 80er Jahre des letzten Jh.s) und angesichts des Trends in der Pastoraltheologie und Dogmatik, den postmodernen Kontext ekklesiologisch zu reflektieren (City Religion, Passantenpastoral), im weiteren Sinn auch angesichts des abendländischen ekklesiologischen Gesamttrendes zur Gesamtkirche hin. Weil Subjektwerdung und Erlösung des Einzelnen nur im Rahmen personal-interpersonaler Gemeinschaft möglich sei, habe die Gemeinde »als Erst- und Urform von Kirche grundlegende Bedeutung für die Vermittlung des Heils und die Existenz der Kirche überhaupt« (21).
Gemeinde ist dabei ein offener dogmatischer Begriff – solche Gemeinde ist nicht mit ihren verschiedenen Realisierungsformen (Ortsgemeinde, Personalgemeinde usw.) identisch. Da Kirche aus zwei gleichwertigen Polen zusammengesetzt gedacht wird (Ge­samtkirche und Gemeinde), handelt es sich bei der Arbeit um eine Art Gesamtekklesiologie, aber eben ganz auf den einen Pol konzentriert. Die umfangreiche historische Darstellung von der Heiligen Schrift bis zur Gegenwart (30–894) dient der Begründung und Bestätigung der Grundthese, die abschließend als systematisch-theologisches Ergebnis zusammengefasst wird (895–991). Der historische Teil ist als Materialzusammenstellung hilfreich. Bei der Entschiedenheit der praktisch-theologischen These von der Ge­meinde als der entscheidenden Gestalt von Kirche ist es nicht verwunderlich, wenn die Auswahl der Literatur, der Gesichtspunkte und Urteile sehr stark von dieser These mitgesteuert wird. Deshalb bleibt eine ganze Reihe von historischen Einzelurteilen diskussionsbedürftig. Auch die methodologische Frage, wie die Kirchengeschichte und die Überlieferungsgeschichte des Kirchenverständnisses historisch und dogmatisch zu rekonstruieren sind, bleibt weitgehend unerörtert. So haben wir in den vielgestaltigen neutes­tamentlichen Gemeindetheologien (30–248) die maßgebliche Grundlage heutiger Gemeindetheologie vor uns: Die ganze Kirche verwirklicht sich in den Gemeinden (248). Aber schon in der Väterzeit (249–502) beginnt auf Grund äußerer und innerer Entwicklungen (Mönchtum, innerkirchliche Konflikte, Konstantinische Wende usw.) ein Abfall. Das Mittelalter bringt schließlich den radikalen Bruch im gemeindlichen Kirchenverständnis: Es gibt kein wirkliches Gemeindechristentum mehr (503–627, besonders 534–537.564–567). Das Konzil von Trient nimmt »die reformatorische Wie­derentde­ckung der Gemeindedimension« (604–609.569–609) nicht auf. »Es fördert weiterhin die mittelalterliche Gemeindevergessenheit und setzt diese trotz aller Reformansätze bis ins 20. Jh. hinein fort.« Die Fixierung auf die Pfarrei führt nur zu einem einseitigen Gemeindeverständnis (627.611–627).
Nach dieser Abfallgeschichte folgt dann in Teil II die umfangreiche Neuentdeckungsgeschichte (629–991). Zunächst wird umfassend über die Diskussion vor, auf und nach dem Vatikanum II be­richtet (630–785). Verdienstvoll ist auch die folgende Übersicht über pastorale Modelle der Gemeinde-Werdung im deutschsprachigen Raum, in Lateinamerika, Afrika und Asien (787–894). Abgeschlossen wird die Arbeit durch »Dogmatische Grundzüge für eine Gemeindetheologie der Gegenwart und Zukunft« (895–991). Im Wesentlichen soll hier gezeigt werden, dass die Grundeigenschaften der Gesamtkirche (Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität) und deren Grundvollzüge (Martyria, Liturgia, Communio und Diakonia) analog auch für die Gemeinde gelten und hier gerade in ihrer Ereignishaftigkeit, Orthaftigkeit und als personal-interpersonales Geschehen aktualisiert werden.
Das umfangreiche, streckenweise auch ziemlich langatmige Buch bietet einen guten, wenn auch in Einzelheiten diskussionsbedürftigen (Literatur-)Überblick über die Gemeindewirklichkeit und Gemeindetheologie vom Neuen Testament bis zur Gegenwart, bleibt aber gerade im zentralen Anliegen, den Gemeindebegriff als theologischen Begriff wiederzugewinnen, eigentümlich vage. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Gemeinde (sozusagen als Überreaktion) nur noch theologisch reflektiert wird, obwohl sie zwangsläufig auch eine sozialtheoretische Bedeutung hat (diese wird sogar ausdrücklich ausgeblendet), und dass die Unterscheidung von Zeichengehalt und Zeichengestalt der Kirche nicht reflektiert wird, wodurch dann unter der Hand eine bestimmte Ge­meinschaftsform zur eigentlichen Gestalt von Kirche zu werden droht.