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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

537–539

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Knape, Rosemarie [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martin Luther und Eisleben.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 456 S. m. Abb. gr.8° = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 8. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02484-1.

Rezensent:

Volker Leppin

Bis in die Tagespresse hinein gewinnt ein neuer Zugang zur Biographie Luthers Aufmerksamkeit: die »Luther-Archäologie«. Sie verdankt sich den nach der Wende neu eröffneten Möglichkeiten zur Untersuchung der originalen Lebensstätten des Reformators und den bemerkenswerten Aktivitäten der Stiftung Luthergedenkstätten. Auch wenn Sensationen bislang ausgeblieben sind, tragen die diversen Grabungen doch dazu bei, manches am Bild Luthers und auch seine Rezeption präziser zu fassen als bislang.
Dieser Band ist im Kontext der Neueröffnung desjenigen Eislebener Gebäudes erschienen, das wir nun nach den Ausführungen von Christian Matthes (73–86) als »Luthergeburtshausmuseum« be­zeichnen sollen. Hintergrund des Wortungetüms ist die genaue archivalische Recherche, die von Matthes und Annemarie Neser (87–119) präsentiert wird. Hiernach wird deutlich, dass das originale Geburtshaus nur noch in Fundamentspuren erhalten ist, nachdem es 1689 bei einem Stadtbrand zerstört und vier Jahre später durch einen für kommunale Zwecke genutzten Gedenkbau ersetzt worden ist. Ob man bei diesem eher den Charakter als »eines der ersten bürgerlichen Museen in Deutschland« unterstreichen (74) oder gerade den Verzicht auf museale Instrumentalisierung in den Vordergrund rücken will (96): Die Episode ist bemerkenswert für die lutherische Gedächtniskultur, die ohnehin Anstoß an der Nutzung des Geburtshauses durch einen Schankwirt genommen und daher schon vom originalen Gebäude das Gedächtnisbild entfernt hatte – was seinerseits wieder zu dem Vorwurf führte, eben deswegen habe Gott das Gebäude anders als in den Feuersbrünsten von 1498, 1601 und 1679 nicht wunderbar er­halten (90). So rasch solche Vorstellungen dem Protestantismus fremd geworden sein mögen: Dass die Hoffnung auf Authentizität im »Luthergeburtshausmuseum« bis in die jüngste Zeit gerne auch gegen die Realität und die Archivalien aufrechterhalten wurde, zeichnet Neser sachlich nach. Der Band dürfte mit dieser Legende aufgeräumt haben.
Die genaue Erfassung von Luthers Kindheit und Jugend verdankt sich allerdings nicht nur der Analyse realer Relikte, sondern ebenso der literarischen Quellenanalyse. Mi­chael Fessner (11–31) erschließt eine Fülle von Quellen zum wirtschaftlichen Umfeld sowohl des Vaters Hans als auch des Bruders Jacob Luder, die für Luthers Familie zwar das Bild des sozialen Aufstiegs bestätigen (19), aber den Gedanken deutlich relativieren, Hans Luder habe sich vom Hauer zum Hüttenpächter hochgearbeitet: Die Pacht dürfte nur auf Grund von Vermögen, das ihm anderweitig zur Verfügung stand, finanzierbar gewesen sein (ebd.). Günther Wartenberg (143–162) zeichnet die konfessionell bedingten Biographien Luthers seit der schon mit Melanchthon begonnenen »Monumentalisierung« nach (145), Alexander Bartmuß analysiert Luthers Tischreden als Quelle für Luthers Kindheit und Jugend (121–142). Er weist auf die immer noch zu wenig eigenständig untersuchte Problematik dieser Quellengattung hin, auch auf die Schwierigkeit einer Rekonstruktion auf ihrer Grundlage, weil es sich bei ihnen im Allgemeinen um gefärbte Rückblicke des Re­formators auf seine vorreformatorische Lebensphase handelt (139). So kommt er – auch wenn im Falle des Annenkultes eine Wahrnehmung von Angelika Dörfler-Dierkens Hinweisen auf dessen vergleichsweise geringere Bedeutung für Luthers frühe Prägungen wünschenswert gewesen wäre (141 f.) – zu einer ausgewogenen Deutung von Luthers Frömmigkeit, nach der dieser »nicht nur in Angst und Schrecken« gelebt habe, sondern auch »Trost und Hilfe« erfahren habe (139).
Lutherarchäologie oder »Reformationsarchäologie« findet nicht nur in Wittenberg, sondern auch in Mansfeld statt. Andreas Stahl stellt die Baugeschichte des dortigen Elternhauses Luthers vor (353–389). Die bei den Grabungen in einer Abfallgrube gemachten Funde, die in der Öffentlichkeit zum Teil als Sensation gehandhabt wurden, werden von Björn Schlenker wohltuend nüchtern vorgestellt (343–351), auch wenn für die Lutherforschung der letzten Jahrzehnte die »Überraschungen« über den gewissen Wohlstand der Familie weniger groß waren, als Schlenker meint (345).
Der Band enthält darüber hinaus eine Fülle von Beiträgen zu Eisleben (G. Schlenker, Vogler und Wäsche) sowie zu Mansfeld (Bräuer) und zur Mentalitäts- und Kulturgeschichte am Übergang vom späten Mittelalter zur Reformationszeit (Kühne, Philippsen, Roch-Lemmer, Rockmann, Treu, Tietz). Er schließt mit einem Beitrag von Volkmar Joestel, der mehrere Luther-Legenden kritisch Revue passieren lässt und dabei bedenkenswerte Argumente dafür sammelt, dass das Gelübde Luthers bei Stotternheim auch als Flucht vor den Heiratsplänen des Vaters zu verstehen ist.
Man mag in diesem Buch keinen neuen Impuls für die Lutherforschung sehen, wohl aber eine Bereicherung, die wesentliche Aspekte von Luthers Herkunft und Jugend genauer verstehen lässt.