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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

533–535

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bullinger, Heinrich

Titel/Untertitel:

Schriften zum Tage. Hrsg. v. H. U. Bächtold, R. Jörg u. Ch. Moser.

Verlag:

Zug: Achius Verlag 2006. 404 S. 8° = Studien und Texte zur Bullingerzeit, 3. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-905351-12-5.

Rezensent:

Daniel Timmerman

Seit dem Jubiläumsjahr 2004 hat die Forschung zu Leben und Wirken Heinrich Bullingers (1504–1575) viele neue Impulse erlebt. Eine wichtige Leistung insbesondere der Schweizer Bullinger-Forschung ist die Erschließung des umfangreichen Korpus an Briefen, Manuskripten und schwer zugänglichen Editionen des Zürcher Reformators. Neben der fortschreitenden Edition des Bullinger-Briefwechsels und Ausgabe der Heinrich Bullinger Schriften (HBS, eine Textauswahl in moderner deutscher Übersetzung) ist jetzt im Achius Verlag eine wissenschaftliche Edition einiger Schriften Bullingers im – hauptsächlich – deutschen Originalwortlaut verlegt worden.
Die Herausgeber, die alle an der Bullinger-Briefwechsel-Edition beteiligt sind, haben diesen Band zusammengestellt als ein »Be­gleitbuch« zu den Übersetzungen in Band 6 der HBS. Dabei haben sie von 26 Schriften den Text des handschriftlichen Originals oder der schwer zugänglichen Edition wiedergegeben. Auf Grund ihrer Editionsprinzipien haben sie die Texte »zeichengetreu«, aber nicht »zeilengetreu« übertragen.
Die Schriften sind chronologisch geordnet, ohne nähere thematische Gliederung. Sie wurden mit einer kurzen und zutreffenden historischen Einführung versehen. Einführungen und sachliche Anmerkungen zu den Texten sind (abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen) identisch mit den in HBS 6 abgedruck­ten. Auch das Literaturverzeichnis, Bibelstellenregister sowie Personen- und Ortsregister ermöglichen es, diesen Band unabhängig von den HBS zu benutzen.
Es handelt sich in den meisten Fällen um sog. ›Fürträge‹: mündliche Vorträge des Zürcher Predigers vor dem Kleinen oder Großen Rat der Stadt. Als Antistes der Zürcher Kirche hat Bullinger diese Vorträge – mit wechselndem Erfolg – ausgebaut und als Instrument für die Durchsetzung der kirchenpolitischen Zwecke des Zürcher Klerus benutzt (vgl. Hans Ulrich Bächtold, Heinrich Bullinger vor dem Rat. Zur Gestaltung und Verwaltung des Zürcher Staatswesens in den Jahren 1531 bis 1575, ZBR 12, Bern: Lang 1982. Einige ›Fürträge‹ in der vorliegenden Ausgabe fanden in Bächtolds Arbeit bereits eine erste Edition). Weiter bezeugen mehrere Schriften in diesem Band Bullingers Aktivität als Gutachter und Kommissionsmitglied im Dienste der Zürcher Obrigkeit. Auch seine Schlussrede auf der Herbstsynode von 1571 zeigt, dass er gehalten war, die Interessen der ›gnedig herren‹ im Rat gegenüber seinen Amtskollegen zu vertreten. Schließlich sind auch drei kurze thematische Einzelschriften in diesen Band aufgenommen.
Inhaltlich umkreisen alle Texte die Bemühungen Bullingers um die Gestaltung des politischen und kirchlichen Alltags während seiner Jahre als Antistes der Zürcher Kirche. Die letzte Schrift in diesem Band – ein Abschiedsbrief an den Magistrat, datiert auf August 1575 – reflektiert nicht nur die Selbstwahrnehmung des Pfarrers am Zürcher Großmünster, sondern fasst auch die tatsächliche Spannbreite seiner kirchenpolitischen Aktivitäten, wie sie aus den vorhergehenden Texten hervorscheint, kaleidoskopisch zu­sammen. Dabei können drei thematische Schwerpunkte unterschieden werden.
Erstens bezeugen verschiedene Schriftstücke Bullingers Ringen um Selbständigkeit der Kirche in Glaubenssachen. Sein Auftreten gegen die Verstaatlichung des Großmünsterstiftes (1532) und ein Druckverbot für ein Bekenntnisbüchlein (1553) hat den gewünschten Erfolg. Bullingers Eintreten für die Beteiligung der Kirchendiener bei Pfarrwahlen (1538) oder für die Freiheit der Pfarrer, politisch brisante Themen wie die Verwendung der Kirchengüter und die Außenpolitik auf der Kanzel zu erörtern (1549, 1555), sind eher Musterbeispiele für die kontinuierliche Suche der jungen protestantischen Kirche nach einem Standort im neuen politischen Kraftfeld.
Ein zweiter Themenkreis bezieht sich auf Zürichs Stellungnahme zu kirchen- und außenpolitischen Fragen. Entschieden wendet sich Bullinger gegen militärische Allianzen mit dem deutschen Kaiser (1532) oder dem französischen König (1549). Stattdessen plädiert er für finanzielle Unterstützung französischer Flüchtlinge in Genf (1569). Innerhalb seines ersten Jahres als Antistes der Zürcher Kirche plante Bullinger, ganz jenseits der politischen Realität, eine Auflösung der Eidgenossenschaft und einen Sondergang der reformierten Orte (1532). Nach 20 Jahren hat er sich mit der Wirklichkeit versöhnt und wendet sich nur noch gegen die herkömmliche Schwurformel der Eidgenossen »by gott und den heiligen« (1555). Auch in Bezug auf kirchenpolitische Fragen mahnt Bullinger den Magistrat zu einer zurückhaltenden Stellungnahme. Er führt so­wohl prinzipielle Argumente als auch den Kostenaspekt an, um die Teilnahme Zürichs an einem Gespräch mit Luther (1536) oder an der dritten Sitzungsperiode des Konzils von Trient (1562) zu verhindern.
Die übrigen Schriften beziehen sich auf den Bereich der sozialen und religiösen Disziplinierung der Bevölkerung. Dabei verbindet er jeweils eine konkrete Notlage mit dem Auftrag der Prediger zur Verkündigung des göttlichen Wortes. Mehrmals macht Bullinger als Vertreter der Zürcher Pfarrer die Obrigkeit auf den Wucher als sozialökonomisches Problem aufmerksam (1534, 1558). Auch ruft er den Rat in die Verantwortung für das Problem der Armut und das Übel des Bettelns (1558, 1572). Zugleich versieht er seine Kollegen in der Synode mit Argumenten zur Verteidigung der staatlichen Haushaltspolitik gegenüber der Landesbevölkerung (1571). Das Spannungsfeld zwischen kirchlichen Idealen und politischer Realität erweist sich klar aus der wiederholten Aufforderung zur Handhabung oder Erweiterung der Sittenmandate (1560, 1566). Das Bemühen der Pfarrer um die religiöse Disziplinierung der Gesellschaft bezeugt Bullingers Eintreten für die Räumung der Beinhäuser, die er als »ein paepstisch gedicht« und eine Quelle des Aberglaubens ablehnt (1568). Auch die nicht publizierten Abhandlungen gegen die schwarzen Künste und das Glockenläuten (beide 1571) zielen auf eine weitergehende Reformation des öffentlichen Le­bens. Ein wichtiges Instrument dafür war nach Bullingers fester Überzeugung die Schulbildung der Jugend. Nicht nur plädiert er wiederholt für die Einrichtung lateinischer oder deutscher Schulen (1537, 1556), er kümmert sich auch um die Lebensführung der Studenten im Alumnat (1566).
Bei allem großen Verdienst der Herausgeber und des Verlags bleibt die Frage, warum dieser wichtige Band nicht irgendwie in die wissenschaftliche Gesamtausgabe der Heinrich Bullinger Werke aufgenommen worden ist. Diese vorbildliche Edition verdient es nicht, die ihr gebührende Beachtung zu vermissen.