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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

523–525

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hall, David R.

Titel/Untertitel:

The Unity of the Corinthian Correspondence.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2003. IX, 280 S. gr.8° = Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series, 251. Kart. £ 37,99. ISBN 0-5670-8422-1.

Rezensent:

Christian Stettler

David Hall, früher Dozent für Neues Testament am Seminar der anglikanischen Church of South India, ist bekannt durch seine scharfsinnigen Arbeiten über unausgesprochene Voraussetzungen in der Exegese (The Seven Pillories of Wisdom, Macon GA 1990) und über die Formgeschichte der Evangelien (The Gospel Framework, Carlisle 1998). Er legt hier eine nicht weniger scharfsinnige und von klassisch englischem common sense geprägte Untersuchung zur Situation der Korintherbriefe vor. H.s Ergebnisse widersprechen den heute vorherrschenden Sichtweisen in wesentlichen Punkten, insbesondere die Hauptthese, dass die Gegner des 2Kor schon im 1Kor im Blick seien. Man wird deshalb versucht sein, der Studie nicht weiter Aufmerksamkeit zu schenken. Sie verdient es aber, dass man sich mit ihr ernsthaft auseinandersetzt, weil sie zu ihren Ergebnissen durch eine sorgfältige semantische und syntaktische Analyse kommt. H. argumentiert durchweg präzise und immer so, dass er sich nicht von vornherein auf eine einzige Lösung versteift, sondern die verschiedenen philologisch gegebenen Möglichkeiten gegeneinander abwägt. (Zuweilen kann er die Entscheidung auch offen lassen, wo er die Argumente für »well balanced« hält.) Die Aufmerksamkeit, die H. bei seinem Ansatz dem Detail geben muss, macht die Lektüre nicht einfach – man kann das Buch nicht überfliegen und vermisst eine Zusammenfassung am Ende und z. T. auch bei einzelnen Argumentationsschritten. Dies ist aber nicht Nachlässigkeit, sondern Programm: H. will in seiner Argumentation nachvollzogen und nicht auf Grund seiner zurzeit unpopulären Ergebnisse von vornherein außer Acht gelassen werden.
Ausgangspunkt der Argumentation ist 1Kor 4,6, eine alte crux interpretum. H. zeigt, dass metaschēmatízo eine klare und konsis-tente Bedeutung aufweist: »to alter the form or appearance of something into something else« (5). Was Paulus in 1Kor 1–3 über Apollos und sich selbst schreibt, bezieht sich demnach in Wirklichkeit auf ungenannte andere, und die in 1,12 und 3,4–9 genannten Namen sind nicht wörtlich gemeint, vielmehr weist Paulus nach antiker Konvention indirekt auf seine Gegner hin: »if Paul who first brought the gospel and Apollos who confirmed it are not rivals but colleagues, how much more should this be true of your new teachers­ A, B, C and D!« (7) Nach 4,15; 9,2 sind in Korinth zur Zeit des 1Kor mehrere auswärtige Lehrer tätig. Sie bestreiten den Apostolat des Paulus, weil er sich nicht von der Gemeinde unterstützen lässt (4,1–5; 9,1–14).
Die Spaltung der Gemeinde in Korinth (1,10–16; 3,1–4) hängt mit der »Weisheit« der neuen Lehrer zusammen (1,17–2,16; 3,18–21). Die Charakteristik der Lehrer in 1,17; 2,1.4.6.13 gleicht auffällig den einflussreichsten zeitgenössischen Rhetoren und Weisheitslehrern, den Sophisten (hier bezieht sich H. auf Bruce W. Winter, Philo and Paul among the Sophists, Cambridge 1997). »Weisheit« bezieht sich auf Inhalt und Form (Rhetorik), weil Paulus gegen beides argumentiert, nicht nur gegen falsches Verhalten, wie oft angenommen wird. Die in 1Kor 5–16 verhandelten, überwiegend praktischen Probleme gründen in den theologischen Prinzipien der in Kapitel 1–4 verhandelten »Weisheit« jener Lehrer. Die Betonung von Weisheit/ Erkenntnis, Geist und Vollkommenheit sowie Paulus’ Vorwurf des »Aufgeblasenseins« ziehen sich durch den ganzen Brief hindurch und charakterisieren somit die ganze korinthische Gemeinde, ungeachtet der vorhandenen Gegensätze zwischen Libertinisten und Asketen, Reichen und Armen, Schwachen und Starken. Die Haltung der Gemeinde gegenüber dem Unzuchtssünder in 1Kor 5, ihre individualistische Spiritualität (Kapitel 12–14) und die Haltung der Starken in 8,1 gründen jeweils in einer theologischen Überzeugung. Soziologische Erklärungen greifen zu kurz. (Auf S. 51–79 findet sich eine wichtige, differenzierte Kritik der Kontroverse von Gerd Theißen und Justin Meggitt über den sozialen Hintergrund der korinthischen Gemeinde.)
Im Anschluss an Danker, Young, Ford und Hughes zeigt H. in mehreren Argumentationsgängen, dass die verschiedenen Argumente gegen die Einheit von 2Kor nicht zwingend sind und dass sich die Spannungen mit der Pragmatik und Rhetorik des Briefs zufriedenstellend erklären lassen. So zeigt er, dass die Kritik, die in 2Kor 10–13 offen geäußert wird, auch schon implizit in Kapitel 1–7 enthalten ist, und widerlegt auf überzeugende Weise H. D. Betz’ Hypothese zu 2Kor 8–9 und L. L. Welborns Hypothese zu 2Kor 2,14–7,4. (Auf S. 114–124 finden sich bedenkenswerte methodenkritische Überlegungen zur rhetorischen Analyse.) H. folgert: »2 Corinthians, in the form in which we now have it, fits perfectly the category of a ›mixed‹ letter – several sections, each with its own rhetorical structure, combined into a single whole.« (119)
Für die Identifikation der Gegner in Korinth setzt H. beim 2Kor an, weil Paulus dort direkt auf sie Bezug nimmt. Sie sind Juden­chris­ten (11,22), und zwar hellenistische, für die nicht Beschneidung und Toragehorsam im Zentrum des Interesses stehen, sondern rhetorische Fähigkeiten (11,5 f.) sowie die allegorische Auslegung der Tora. Auf Letztere weist die Auseinandersetzung in 2Kor 3 hin. Für die Schriftauslegung sahen sie sich wohl durch ihre jüdische Abstammung besonders qualifiziert (vgl. 11,22). Inhaltlich lehrten sie nach Paulus’ Einschätzung »einen anderen Jesus, einen anderen Geist und ein anderes Evangelium« (11,4). Für Käsemanns Hypothese, dass sie von den Leitern der Jerusalemer Urgemeinde autorisiert waren, fehlt jeder Hinweis (sie ließen sich vielmehr durch andere Gemeinden empfehlen, vgl. 3,1).
Die Gegner im 1Kor sind schwieriger zu bestimmen. Isoliert betrachtet könnten die unterschiedlichen von Paulus kritisierten Lehren und Praktiken mehreren Quellen zugewiesen werden. Sieht man sie aber zusammen, sind die Verbindungen zum hellenistischen Judentum überdeutlich. Die Gemeinsamkeiten mit den Gegnern von 2Kor sind so gewichtig, dass man nach H. annehmen kann, dass sie mit ihnen identisch sind. »It is true that the conflict between Paul and his opponents developed between the two letters, and some of the accusations Paul rebuts in 2 Corinthians are new. But the underlying source of the conflict was unchanged« (152). Man nimmt gewöhnlich an, dass einige Themen des 1Kor im 2Kor abwesend sind, aber wie H. auf S. 152–154 zeigt, kommen sie dort vor oder sind zumindest vorausgesetzt. Folglich beziehen sich die Anspielungen von 2Kor 11,4 (»ein anderer Jesus, ein anderer Geist, ein anderes Evangelium«) auf das, was Paulus im 1Kor geschrieben hatte: Dem anderen Jesus und anderen Evangelium hatte er die Schwachheit und die Leiden Christi und seiner Apostel gegenübergestellt; zum anderen Geist hatte er sich in 1Kor 7,40 und Kapitel 12–14 geäußert. H. widmet ein Kapitel der methodisch kontrollierten Rekonstruktion von Aussagen der Gegner; hier macht er bedenkenswerte Beobachtungen zu den Stichworten »Freiheit«, »Torheit«, »Bewährung« und »Maß«, die alle mit der Beurteilung von Aposteln zu tun haben.
Nach H. ist 1Kor der in 2Kor 2,4 erwähnte Tränenbrief, da die in ihm vorausgesetzte Situation Paulus nachweislich sehr nahe ging. Dem widerspricht nicht der vernünftig argumentierende Charakter des Briefs, denn Paulus versuchte auf diese Weise, die Korinther zu gewinnen. H. argumentiert überzeugend, dass der Sünder von 2Kor 2,5.10, der Paulus persönlich betrübt hatte, mit dem Unzüchtigen von 1Kor 5 identisch ist, der die Lehre des Paulus und damit ihn selbst zurückgewiesen hatte. Paulus behandelte den Fall in 1Kor als Testfall für die Loyalität der Korinther zu ihm und seiner Lehre; dasselbe besagt 2Kor 2,9 für den Tränenbrief. Wegen der Identität von Tränenbrief und 1Kor erübrigt sich nach H. auch die Theorie eines Zwischenbesuchs des Paulus in Korinth zwischen 1und 2Kor.
Nach H. konzentriert sich Paulus im 1Kor auf die Gemeindeglieder, um sie gegen die neue Lehre und die aus ihr resultierende Praxis zu immunisieren. Weil Paulus damit teilweise erfolgreich war, richteten die Gegner ihren Angriff verstärkt auf seine Person. Dies erklärt die direkte Polemik des Paulus gegen sie im 2Kor. Ziel des 2Kor ist der Gehorsam der großen Mehrheit der Gemeinde, so dass er bei seinem nächsten Besuch mit ihrer Unterstützung gegen eine allfällige Minderheit vorgehen kann, die immer noch den Gegenaposteln anhängt. »Had Paul used the abusive language of 2 Cor. 10–13 at the time of 1 Corinthians, he would have split the church. By his patient and sympathetic approach at the beginning, he sought to build up and unify the church« (257).
Es ist nicht nur zu hoffen, dass die Fachwelt sich ernsthaft mit H.s Argumentation auseinandersetzt, sondern auch, dass die vielen wertvollen, z. T. in Exkursen eingestreuten exegetischen Einzelbeobachtungen ihren Weg in die Kommentare finden.