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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

519–521

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Campbell, William S.

Titel/Untertitel:

Paul and the Creation of Christian Identity.

Verlag:

London-New York: T & T Clark 2006. XIV, 203 S. gr.8° = Library of New Testament Studies, 322. Geb. £ 65,00. ISBN 0-567-04424-3.

Rezensent:

Christian Strecker

William Campbell, Reader in Biblical Studies an der University of Wales, Lampeter, widmet sich in dem angezeigten Buch der Bedeutung der unterschiedlichen ethnischen Identitäten der Christusanhänger in den frühen paulinischen Gemeinden. Die Schlüsselfrage lautet: Propagierte der Völkerapostel eine universale christliche Identität, die die ehedem jüdischen und nichtjüdischen Iden­titätsprofile der Gemeindeglieder annullierte, oder legte Paulus Wert auf den Fortbestand jüdischer und nichtjüdischer Identitäten? C. votiert mit Nachdruck für die letztgenannte Antwort. Juden blieben für Paulus auch als Christusanhänger Juden, und christusgläubige Nichtjuden durften nicht gezwungen werden, Proselyten zu werden. Entscheidend sei für den Apostel gewesen, dass die ethnisch-kulturellen Unterschiede in der Christusgemeinschaft nicht zum Anlass für Diskriminierung wurden. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden im sozialen Leib Chris­ti sollte vielmehr durch Toleranz geprägt sein. Voraussetzung dafür sei die Transformation des symbolischen Universums der Konvertiten im Lichte des Christusgeschehens. Anderslautenden Deutungen, die aus den Paulustexten eine universalistische Einebnung der ethnischen Differenzen herauslesen, hält C. vor, sie be­rücksichtigten den damaligen Kontext der Briefe zu wenig und generalisierten in unzulässiger Weise die jeweils nur auf bestimmte Situationen bezogenen Aussagen des Apostels. Sie stünden zudem in der Gefahr, jenen ungerechtfertigten Überlegenheitsanspruch des Christentums zu stützen, der in der Geschichte der Kirche von frühester Zeit an die »victimization« von Juden und An­dersgläubigen gefördert habe, dem Ansinnen des Apostels aber gänzlich zuwiderlaufe. C. entfaltet seine These in zehn Kapiteln.
In Kapitel 1, der Einführung, stellt C. neben dem Aufbau des Buches die Ausgangspunkte seiner Paulusexegese vor und geht insbesondere auf die Bedeutung der Schlüsselbegriffe ᾿Ιουδαῖοι und τὰ ἔθνη ein. Kapitel 2. enthält einen informativen Forschungsüberblick. Behandelt werden die Positionen von F. Chr. Baur, W. D. Davies, J. Munck, K. Stendahl und E. Käsemann, ferner die »neue Perspektive« bei E. P. Sanders und J. D. G. Dunn sowie die dagegen erhobenen Einwände. C. kommt zu dem Schluss, dass die seit Baur nachdrücklich propagierte, gleichwohl aber verfehlte Kontrastierung von Paulus und dem Judentum noch in der gegenwärtigen Forschung nicht überwunden sei. Unter der Überschrift »Paul’s Theologizing Concerning the Other« stellt C. in Kapitel 3 heraus, dass Paulus die theologische Diversität im frühen Christentum wie auch das Agieren anderer Apostel und Autoritäten trotz einzelner Konflikte weithin anerkannt habe. Dem Antiochenischen Konflikt käme nicht jene fundamentale, das Band mit dem Judentum zerschneidende Bedeutung zu, wie immer wieder be­hauptet werde. Paulus sei kein sektiererischer Separatist, sondern ein Reformer gewesen, der die Erneuerung seines Volkes in der mit Christus eröffneten neuen Zeit predigte. Kapitel 4 geht auf die liminale Situierung der nichtjüdischen Christusanhänger ein. Diese seien einerseits durch die Begründung ihres heilsgeschichtlichen Status aus der Schrift und über die christusgläubigen jüdischen Gemeindeglieder mit den jüdischen Gemeinschaften verbunden, andererseits sei es ihnen nach Paulus aber verwehrt, sich dem Judentum einzufügen und Proselyten zu werden. Dem Modell Ab­raham folgend, hätten sie sich zugleich von ihrem früheren Le­bensstil zu distanzieren. Diese eigentümliche Verortung verleihe ihnen eine distinkte Identität, die aber aus und in Verbindung mit dem jüdischen symbolischen Universum entwickelt sei. In Kapitel 5 thematisiert C. das dreifache Interaktionsfeld des Apostels zwischen jüdischen Synagogengemeinschaften, christusgläubigen Gemeinden und römischen zivilen Autoritäten. Paulus wird als flexibler Pragmatiker vorgestellt, der je nach Situation vor Ort strategisch agierte. Kapitel 6 ist den genaueren Konturen des paulinischen Identitätsdesigns gewidmet. Aus 1Kor 7,17–24 folgert C., der Apostel würde jenen Status, in dem man zum Glauben berufen wurde, als nach wie vor signifikant erachten. Theologische, ethnische und ge­schlechtliche Distinktionen seien nur relativiert, aber nicht obsolet. Das »foundational design« der Kirche sei weder mit dem Label »third race« noch als neues oder redefiniertes Israel zutreffend beschrieben, »Kirche« und Israel kämen bei Paulus vielmehr als separate und doch verbundene Größen zu fassen. Die »Kirche« sei insofern weder mit Israel zu identifizieren noch davon zu trennen. Kapitel 7 und 8 durchleuchten den Römerbrief. Die in den vorangehenden Kapiteln vertretenen Ansichten werden unter Rekurs vor allem auf Röm 2; 9–11 und 14–15 bestätigt und weiter vertieft. In Kapitel 9 betont C., dass die paulinische Rede von der »neu­en Schöpfung« keine radikale Neuheit, sondern eine Mi­schung aus Neuheit und Kontinuität impliziere. Das Leben in Christus habe nichts mit Christusmystik zu tun und bedeute keine völlige Auflösung partikularer Identitäten. In Kapitel 10 hebt C. hervor, die Protopaulinen enthielten weniger eine fertige Theologie denn ein dynamisches »Theologisieren« angesichts konkreter Herausforderungen. Tragend sei dabei die Vorstellung eines an­dauernden Transformationsprozesses, in den die Christusanhänger eingebunden seien. Ansonsten werden in dem Kapitel nochmals die wichtigsten Ergebnisse der Studie resümiert. In einem Epilog sichtet C. in aller Kürze einige aus seiner Paulusdeutung resultierende Konsequenzen für die gegenwärtige Kirche und Gesellschaft.
Die Untersuchung enthält zahlreiche anregende Überlegungen, die hier in ihrer Breite nicht wiedergegeben werden können. Insgesamt fügt sich die Arbeit der »neuen Perspektive« ein. Stärker noch als etwa bei Dunn wird dabei freilich, wie gesehen, die Kontinuität der paulinischen Botschaft zum Judentum herausgestellt. Interessant wäre eine intensive Auseinandersetzung mit den Positionen von L. Gaston, J. G. Gager und S. K. Stowers gewesen, auf die C. jedoch leider auch im Forschungsüberblick verzichtet. Das Grund­problem der Studie liegt darin, dass viele der vorgetragenen Ergebnisse nur bedingt exegetisch vertieft werden. So wäre z. B. angesichts der These, Paulus hätte die Diversität im frühen Chris­tentum weithin anerkannt, eine genauere Sichtung der Konflikte und des Profils der paulinischen Konkurrenten zumal im Gal und 2Kor angebracht, was indes unterbleibt. Auch bei der Relativierung der Bedeutung des Antiochenischen Konflikts (42–46) geht C. kaum näher auf die vielen exegetischen Probleme in Gal 2,11–14 ein. Und dass Paulus das in seinen Briefen nirgends erwähnte »Aposteldekret« akzeptierte (58), bleibt ohne genauere Begründung. Weitere Beispiele ließen sich hinzufügen. Trotz der expliziten Öffnung für die Applikation sozialwissenschaftlicher Modelle in der Exegese (10) vermeidet C. auch die Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Identitätstheorien. So bleibt z. B. trotz der vereinzelten Verwendung des Begriffs »liminal« die entsprechende Theorie Victor Turners unberücksichtigt.
Alle diese Anfragen ändern nichts daran, dass C. eine wichtige Studie vorgelegt hat, die breite Beachtung und Diskussion verdient. In der Umsetzung seines Anliegens, spätere historische Entwicklungen nicht in die Paulusbriefe zurückzuprojizieren, vermag C. zahlreiche berücksichtigenswerte Anstöße zu geben, u. a. auch zu den inzwischen breiter diskutierten politischen Implikationen der paulinischen Botschaft.