Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

509–511

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tillmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XII, 286 S. gr.8° = Historia Hermeneutica, 2. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-019068-7.

Rezensent:

Alf Christophersen

In seiner von Ernst Osterkamp, Berlin, betreuten literaturwissenschaftlichen Dissertation setzt sich Thomas Tillmann mit dem jungen Goethe auseinander, näher mit seinem Verständnis von Hermeneutik und Bibelexegese in ihrer Auswirkung auf die Genieästhetik. Dass er dabei weit in das Feld der Theologie hineingeht, ist T. bewusst, und er »hofft dabei auf Nachsicht dem gegenüber, der die ubiquitäre Forderung nach Interdisziplinarität einzulösen versucht und sich dabei fast unweigerlich von seiten des Faches, in dem er zu wildern sich anmaßt, angreifbar macht« (VII). Nun hat sich seit jeher an fast keiner Stelle die Hermeneutik an einen bestimmten Ort und »Sehepunkt« binden lassen, sondern lebt von einer umfassenden Perspektive. Gerade die Philologien sind in den entscheidenden Phasen ihrer Etablierung im Feld der Wissenschaft maßgeblich gewesen.
In Zeiten einer »Bibel in gerechter Sprache« hat es einen erfrischenden Wert, sich die Übersetzung vor Augen führen zu lassen, die Goethe 1775 vom Hohen Lied der Liebe anfertigte. Dieser dichterischen Aneignung des alttestamentlichen Hymnus ist ein Kapitel der Untersuchung gewidmet (185–233). In einem Anhang zu seiner Arbeit stellt T. sie der Luther-Fassung aus dem Jahr 1545 synoptisch gegenüber (243–253) und vergegenwärtigt so interpretative Übersetzungsleistungen von in dieser Form nie wieder erreichter Höhe. Zahllose ähnliche, wohl nicht immer gleichermaßen ge­glückte Übertragungen, ob von Herder, Hamann oder Gleim, brachte das 18. Jh. hervor. »Das Hohelied als gleichermaßen literarische Autorität wie optimale ästhetische Projektionsfläche erlaubt es, in seiner dichterischen Aneignung dialektisch das Vorgegebene und das Eigene zu verschmelzen und so das bereits Bekannte als immer Gleiches immer neu zu gestalten« (186). Vor dem Hintergrund einer eingehenden Präsentation zeitgenössischer Deutungen sieht T. Goethes relativ freie Bearbeitung des Textes, die vor Kürzungen und Neugliederungen nicht zurückschreckt, als Versuch, »die intime Unmittelbarkeit des Geschehens« (230) zu verstärken. Gleichzeitig zeigt sich an Goethes Umgang mit dem Textmaterial, wie selbstverständlich ihm früh schon die später in »Dichtung und Wahrheit« zum Ausdruck gebrachte Einsicht war, dass die Bibel ein zusammengetragenes Werk sei, nach und nach entstanden und zu verschiedenen Zeiten überarbeitet. Geprägt durch pietistische Einflüsse war Goethe in seinem ästhetischen Konzept, so T., darauf bedacht, einen inneren Kern des Textes zu entdecken und von diesem aus Sinn und Richtung des Ganzen zu bestimmen. Provoziert wird mithin ein aneignender Dialog zwischen literarischem Werk und Rezipient: Im Vorstoß zum je eigenen Arkanum der Schriften öffnet sich der Leser selbst für die Botschaft des Gelesenen.
Mit all seinen gerade auch satirisch-polemisch und spielerisch eingesetzten literarischen Mitteln mischte sich Goethe in die De­batten über Aufgaben und Formen angemessener Bibelexegese ein und nutzte »vor allem die literarästhetischen Potentiale bibelhermeneutischer Modelle«. Der junge Dichter ging dabei »von der pietistischen Vorstellung des pneumatisch ermöglichten Verstehens eines verschlossenen sensus mysticus« aus und entwarf »ein umfassendes Ästhetikmodell, dessen Wesenszug die wechselseitige kausale Bedingtheit eines pneumatischen, idiosynkratischen Verstehens und eines gleichfalls pneumatischen, höchst individuellen Sprechens ist« (235). Die religiöse Zungenrede erscheint als radikale Zuspitzung dieses Konzeptes. Der Pietismus dient Goethe »als Fundus vorgeformter hermeneutischer wie produktionsästhetischer Paradigmen, die er heranzieht«, um »seine ästhetische Selbstverortung zu flankieren« (236).
1995 erschienen Marianne Willems »Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang« sowie Ulf-Michael Schneiders »Propheten der Goethezeit: Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten«. T. nimmt beide Monographien, in denen die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Religion im Hinblick auf Goethes Individualitätsbegriff eine zentrale Rolle spielt, zum Ausgangspunkt seiner eigenen Überlegungen. »Zumal die Bibelexegese bietet Goethe hochreflektierte Verstehenslogiken an, die ebenso säkularisierend auf die Literatur übertragen werden und deren Umwandlungsprodukte in der Geniekonzeption aufgehen« (1). In vier Hauptkapiteln nähert sich T. seinem Gegenstand an: Zunächst steht die »Hermeneutische Grundposition der Bibelexegese im 18. Jahrhundert« (5–64) im Mittelpunkt; erörtert werden die Ansätze der lutherischen Orthodoxie, des Pietismus – in Gestalt von Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke – sowie dann der Aufklärungstheologie und Neologie, aber auch – davon abgehoben – Johann Georg Ha­manns und Johann Gottfried Herders. In einem zweiten Schritt wird die »Bibelexegese in der satirischen Kritik des jungen Goethe« (65–92) fokussiert und am »Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes« sowie dem »Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« en détail beleuchtet. Das dritte Kapitel skizziert »Die Entwicklung pneumatischer Hermeneutik und Produktionsästhetik« (93–184) anhand der Schriften »Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***«, »Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen«, »Von deutscher Baukunst« sowie der frühen Fassung der Wagnerszene im »Faust«. Es schließt sich das Kapitel zur Bearbeitung des Hohen Liedes an (185–233).
Insgesamt hinterlässt T.s Studie einen zwiespältigen Eindruck: Aus der Perspektive eines theologisch geschärften Blicks bleiben seine Ausführungen deutlich hinter dem gegenwärtigen Reflexionsniveau und aktuellen Forschungsstand zurück, dies gilt insbesondere für das erste Hauptkapitel zu den Problemaspekten der Hermeneutik im 18. Jh.; über die weichenstellenden Folgejahrzehnte werden von T. keine Angaben gemacht. Genauso wenig wird der frühe Goethe konstruktiv in Beziehung zur weiteren Entwicklung von Person und Werk gesetzt. Auch bleiben viele prominente literaturwissenschaftliche Arbeiten und Studien unberück­sichtigt, und die tatsächlich aufgenommenen werden mit dem in sich recht hermetischen Argumentationsverlauf der Dissertation nicht hinreichend kritisch verknüpft. Gerade angesichts dieser Einwände aber ist ebenso klar die Stärke der Arbeit zu benennen: T. hat eine Untersuchung vorgelegt, die dem disziplinenübergreifenden Gesamtanspruch der Hermeneutik gerecht wird und die Wechselwirkungen zwischen dem jungen Goethe und den theologischen Debatten seiner Zeit instruktiv und für weitere Erörterungen anschlussfähig aufweist.