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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1048–1050

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter

Titel/Untertitel:

Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560).

Verlag:

Leipzig: Benno 1995. XXXIX, 355 S. gr.8° = Erfurter theologische Studien, 67. DM 48,­. ISBN 3-89543-017-X.

Rezensent:

Henning Ziebritzki

Franks Studie versteht sich als "ein Versuch, die philosophische Theologie Melanchthons und seine damit verbundene Philosophiekonzeption systematisch-historisch zu rekonstruieren" (6). Als zentralen Gegenstand der philosophischen Konzeption Melanchthons arbeitet der Vf. auf überzeugende Weise dessen "theologische Geistphilosophie" (86) heraus, also Melanchthons theologischen Begriff des menschlichen Intellektes als Selbstbewußtsein. Wie fruchtbar die Anwendung der Frage nach Melanchthons Philosophiekonzeption auf seinen Begriff des menschlichen Intellektes ist, zeigt sich in eindrücklicher Weise daran, daß der Vf. anhand dieses Themas im Laufe seiner Darstellung eine Vielzahl zentraler Kontroversen der Melanchthonforschung zu erörtern und plausibel dazu Stellung zu beziehen vermag.

Das erste Kapitel "Annäherungsversuche. Melanchthon im Urteil der Philsophiegeschichte" (9-47) bietet einen instruktiven forschungsgeschichtlichen Überblick über die Deutungen von Melanchthons Philosophie im Rahmen zweier Problemstellungen. Im Kontext des Verhältnisses von reformatorischer Offenbarungstheologie und der Philosophie stellt sich zum einen die doppelte Frage, inwieweit erstens überhaupt der theologische Ansatz bei einer "philosophischen Theologie" oder "theologia naturalis" legitim sei und inwiefern dieser Ansatz zweitens die Rezeption anderer philosophischer Theoreme sachlich zu steuern vermag (11-29). Der Vf. zeigt nämlich in seinem Forschungsüberblick auf, daß jede Interpretation Melanchthons, die seine Philosophie formal durch ein "philosophisches Autoritätenmodell (Aristoteles versus Ciceronem versus Platonem)" (28) zu deuten versucht, die entscheidende Frage nach Melanchthons "spezifischen theologisch-philosophischen Rezeptionsmotive(n)" (23) unbeantwortet läßt. Während der Vf. den Einfluß nominalistischer Problemstellungen auf Melanchthons Philosophie für gering erachtet (30-37), mißt er nun zum anderen dem Verhältnis von reformatorischer Theologie und Humanismus für Melanchthons philosophischen Ansatz maßgebliche Bedeutung bei: Denn das Novum des philosophischen Humanismus sei die "programmatische Besinnung auf die sprachlich-geschichtliche Verfaßtheit des Menschen" (45), die auch den Ansatz von Melanchthons theologia naturalis präge (37-47).

Im zweiten Kapitel "Melanchthons Philosophieverständnis" (49-181) expliziert der Vf. die formalen und inhaltlichen Momente von Melanchthons Philosophiebegriff. Er zeigt, daß die Philosophiekritik des frühen Melanchthon nicht pauschal gilt, sondern in einem dezidierten Sinne auf die "wesensmetaphysische" Philosophie der Scholastik zielt, die einen theologischen Begründungsanspruch für sich reklamiert. Vor dem Hintergrund der reformatorischen Begründung der Autonomie der Theologie und der damit verbundenen Unterscheidung von Theologie und Philosophie weise Melanchthon der Philosophie dennoch eine positive Funktion zu. Sie habe die Aufgabe, die theologische Wahrheit der Offenbarung "in einem philosophisch-wissenschaftlichen Auslegungsmodell plausibel und verbindlich darzulegen" (68). Oder anders gesagt: Die Philosophie hat denselben Gegenstand wie die Theologie, den sie in einer externen Perspektive darstellt. Wenn F. daher eine "regulative Wahrheitsidee" (71), die "ethisch-praktische Relevanz der Philosophie" (71) sowie ein an den "Kategorien von Sprache und Geschichte orientiertes Wirklichkeitsverständnis" (71-86) als die Merkmale von Melanchthons Philosophiebegriff heraushebt, so ist diese Bestimmung der Philosophie nur in Konsequenz des reformatorischen Offenbarungsbegriffes verständlich.

Die Abschnitte über "Die theologische Geistphilosophie als metaphysisches Rückgrat der humanistischen Philosophie Melanchtons" (86-158) und über deren Erkenntnistheorie (159-181) bilden die sachliche Mitte von F.s Studie. Der Vf. weist auf, daß die "metaphysische(n) Annahme einer durch die Erbsünde zwar geschwächten, aber bleibenden Unendlichkeitsidee als Kennzeichen des menschlichen Geistes" (179) die zentrale Begründungsfigur der Theologie Melanchthons ist: Der menschliche Intellekt ist von Gott so geschaffen, daß er am göttlichen Intellekt partizipiert und dessen Inhalte erkennen kann. Konkretisiert werde dieser Ansatz in der Lehre von den "notitiae naturales" einerseits und in der Lehre vom "lumen naturale" andererseits, die beide denselben Sachverhalt thematisieren, nämlich die Einstrahlung des göttlichen Geistes in den menschlichen Intellekt, die es diesem erlaubt, die praktischen und theoretischen Prinzipien der menschlichen Welt zu erkennen (134). Die Pointe dieser Geistphilosophie Melanchthons bestehe nun darin, daß sie schöpfungstheologisch, ohne heilstheologische Relevanz, im Bereich des Gesetzes begründet wird. Durch die Erbsünde und den Verlust von lutherisch identifizierter imago und similitudo sehe Melanchthon die Fähigkeiten des menschlichen Intellektes zwar geschwächt, aber nicht aufgehoben: "Die Vernunfttätigkeit des menschlichen Geistes und die ihm eingestifteten ’natürlichen Kenntnisse’ sind also letztlich die bleibende Gottesebenbildlichkeit, auch wenn die ’imago’ und ’similitudo’ der Urstandsgerechtigkeit verloren gegangen sind" (109).

In den Kapiteln III "Die Erkenntnis von Gottes Existenz und Wesen" (183-225) und IV "Die philosophischen Gottesbeweise" (227-333) zeigt der Vf., daß Melanchthon für beide Problembereiche durch Rekurs auf seine Geistphilosophie und die damit verbundene Kausalität strukturell einheitliche Lösungsversuche zu entwickeln vermag (229). Dabei arbeitet der Vf. heraus, daß auch die kosmologischen Gottesbeweise (235-314) aufgrund ihrer geistphilosophischen Begründung in einem "engen Sinn zunächst anthropologische Argumente" sind (337, 316).F.s hervorragende Studie kann in ihrer argumentativen Fülle und in ihrem Thesenreichtum hier nur unzureichend gewürdigt und diskutiert werden.

Ob er die These eines "platonische(n) Exemplarismus" (213) bei Melanchthon nicht überbetont; ob nicht die Interpretation der Geistphilosophie durch Melanchthons Begriff der gesamten Wirklichkeit als solcher kritisch ergänzt werden müßte; ob Melanchthons theologische Philosophie tatsächlich als ein prämoderner Perspektivenwechsel von der Wesensmetaphysik zur Subjektivierung gedeutet werden kann (179); ob Melanchthon mit seinem Gottesbeweis aus dem Gewissen nicht den Intentionen Luthers folgt ­ all das sind Fragen, die sich im Anschluß an F.s pointierte Thesen ergeben.

Das Urteil dürfte aber kaum übertrieben sein, daß F.s zentrale Deutung der Geistphilosophie schon jetzt ­ wie sich auf dem Melanchthon-Symposion in Bretten zeigte ­ auf hohem begrifflichen Niveau einen neuen Konsens der Forschung formuliert, mit dem sich alle zukünftigen Arbeiten zu Themen wie Ethik, Naturrechtslehre und Schöpfungstheologie werden auseinandersetzen müssen.