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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1046–1048

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lepp, Claudia

Titel/Untertitel:

Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1996. 476 S. gr.8° = Religiöse Kulturen der Moderne,3. Pp. DM 198,­. ISBN 3-579-02602-X.

Rezensent:

Kurt Nowak

Eine größere Untersuchung über den Protestantenverein existierte bisher nicht. Angeregt von Gangolf Hübinger nahm die Historikerin Claudia Lepp eine Studie über ihn in Angriff. Das Ergebnis, eine historische Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Breisgau, liegt nunmehr im Druck vor. Allmählich wird es selbstverständlich, daß sich die allgemeine Geschichtswissenschaft Themen der neueren Kirchengeschichte zuwendet, die zuvor nahezu ausschließlich den Theologen überantwortet blieben. Die Studie über den Protestantenverein ordnet sich dieser erfreulichen Tendenz zu.

Ein großes Plus, das die Autorin verbuchen darf, ist die Widerlegung der im "Lexikon zur Parteiengeschichte" verewigten Behauptung, zum Protestantenverein lägen keine Archivalien vor. Tatsächlich sprudeln die Quellen zwar nicht im Überfluß, aber doch reichhaltig genug, sofern man die gezielte archivalische Recherche nicht scheut. "Durch mühsame Spurensuche in zahlreichen Archiven der gesamten Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz konnte ... umfangreiches und aussagekräftiges Quellenmaterial zusammengetragen werden ..." (19). Die Protokollabschriften der Sitzungen der Ausschüsse fanden sich ebenso wie vertrauliche Rundschreiben, Briefe und vieles andere. Erst diese Archivalien ermöglichen den Blick hinter die Kulissen.

Informell am dichtesten ist das 1. Kapitel: "Gründung, Programmatik und Strukturen eines kirchlich-liberalen Vereins" (23-132). Der Leser hat die gleichsam schulmäßige, insofern mustergültige Rekonstruktion der Entstehung eines Vereins vor sich: seiner wegen der Spannungen zwischen den Kirchlich-Liberalen in Baden und Preußen verzögerten Gründung (1863 Frankfurter Vorversammlung; 1865 öffentliche Gründungsversammlung in Eisenach), seiner Programmatik, seiner Organisationstrukturen, seiner sozialen Trägergruppen und seiner "Aktionsformen und Handlungsmuster". Allenfalls mag man beanstanden, daß die Kernfiguren Richard Rothe, Daniel Schenkel, Johann Caspar Bluntschli (erster Präsident des DPV) und erst recht die Gestalten der zweiten und dritten Reihe ziemlich blaß bleiben. Gewinnen der kulturoffene Ireniker Richard Rothe und der menschlich schwierige Daniel Schenkel immerhin ein wenig Farbe, so agiert der bedeutende Jurist, Politiker und Mitbegründer des "Institut de droit international" in Genf, Bluntschli, körper- und wesenlos in den Strukturen. Gleichwohl, das Kapitel ist wohlgelungen. Die "harten Daten" ­ sie reichen von der berufsständischen Zusammensetzung der Mitglieder bis zu den Finanzen ­ sind in aussagekräftigen Statistiken verarbeitet.

Kapitel 2 ("Das ’Kirchenprinzip des Protestantenvereins’ oder der Versuch einer bürgerlich-liberalen Neuordnung der evangelischen Kirche") und Kapitel drei ("Annäherung an die Gesellschaft der Moderne") beschäftigen sich mit der Vereinsprogrammatik. Das Vereinsprogramm zielte auf Reform der Kirche und die Verbindung des Protestantismus mit der modernen Gesellschaft. Wie die Vfn. unter Beiziehung zahlreicher Druckschriften feststellt, war der Protestantenverein publizistisch außerordentlich rührig. Hintergrundneuigkeiten sind bei der Darstellung der Vereinsprogrammatik begreiflicherweise nur in begrenztem Umfang zu erwarten. Erkenntniszuwachs war vor allem durch die Nachzeichnung der kontroversen Debatten zur Kirchenreform und zum Selbstverständnis des Protestantismus in der Industrie- und Massengesellschaft zu gewinnen. Diesem Erkenntnispfad folgte die Vfn. denn auch weithin. Einige Straffungen hätten der Arbeit hier gut getan. Die Ereignisgeschichte tritt in den Hintergrund. Virulent wird sie dort, wo man den Protestantenverein zu bekämpfen, zu instrumentalisieren oder von höchster Stelle (Kaiser Friedrich III.) zu protegieren versuchte.

Mehr als ca. 30000 Mitglieder (Spitzenzahl von 1872) umfaßte der Protestantenverein zwischen 1869 und 1888 nicht. Das Bild seiner Attraktivität in der kaiserzeitlichen Gesellschaft trübt sich zusätzlich ein, wenn man berücksichtigt, daß er zwei Arten von Mitgliedschaften kannte: direkte und indirekte bzw. mittelbare Mitgliedschaften. Die Zahl der direkten Mitglieder lag im Jahr 1875 bei 925 (Höchstziffer). Seinen Schwerpunkt hatte der Verein in Südwestdeutschland. In den 1880er Jahren wurden vermehrt Mitglieder in Norddeutschland (Bremen) gewonnen. In Baden und Hessen war hingegen eine Schrumpfung zu verzeichnen (92).

Die Vfn. begreift den DPV als Teil des breitgefächerten liberalen Gegenstoßes der 1850er Jahre gegen die Restauration in Politik und Kirche, auch wenn sich das Selbstverständnis des Vereins und seine historische Rolle in dieser Beschreibung nicht erschöpfen. Eingeengt auf das gebildete Bürgertum (welches ihm gleichwohl nicht sonderlich interessiert gegenüberstand), stießen sich die Visionen des Protestantenvereins hart an den Realitäten von Gesellschaft und Kirche. Man träumte von einer "Gemeindekirche", vermochte aber wegen regionaler und inhaltlicher Divergenzen keinen zugkräftigen Kirchenverfassungsplan vorzulegen. Vom Gedanken einer historischen Bringepflicht des Christentums der Moderne gegenüber beseelt, übersah man die Industriearbeiterschaft und die Frauen. Auf die Forderung der Glaubensfreiheit ausgerichtet, vermochte man im Kulturkampf seinen aggressiven Antikatholizismus nicht zu zähmen. Der Verein, so resümiert die Vfn., habe sich auf der "ständige(n) Gratwanderung einer zivilreligiösen Auslegung protestantischen Christentums als theologische Fundierung bürgerlicher Emanzipations- und nationaler Einheitsbestrebungen [befunden], bei der christliche Glaubensinhalte sich zu verflüssigen drohten" (424). Im Geiste des Protestantenvereins könnte man fragen, ob diesem Urteil nicht ein geschichtsunvermitteltes Verständnis des christlichen Glaubens zugrundeliegt. Die faktische Schwäche seines Ansatzes und seine begrenzte Organisationskraft bleibt in jedem Fall eine Tatsache der Kirchen- und Gesellschaftsgeschichte.

Abgesehen von einigen Errata ­ z. B. der Datierung der Eisenacher Kirchenkonferenz auf 1847 ­ zeugt die Dissertation von einem sicheren und erhellenden Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand.

Dem Streifzug durch die Literatur, in welcher auf den Protestantenverein mehr oder minder gehaltvoll eingegangen wird (15-17), ist der Beitrag "Die Liberalen (Protestantenverein)" in: Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach [Hrsg.]: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 2. Leipzig 1994, 236-239 hinzuzufügen. 1995 erhielt die Dissertation den Preis der Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung.