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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

444–446

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Naurath, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2007. XXIV, 316 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2189-3.

Rezensent:

Michael Domsgen

N. widmet sich in ihrer Habilitationsschrift, die 2006 von der Philosophischen-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg angenommen wurde, dem bisher nur unzureichend bearbeiteten Feld der emotionalen Bildung. Dabei will sie die Entwicklung von Mitgefühl im Kleinkind- und Grundschulalter als konstruktiven Beitrag zur Gewaltprävention vorstellen. Religiöse Bildung versteht sie auch als ethische Bildung und nimmt dabei besonders die emotionale Dimension in den Blick. Hier zeigt sich, dass N. den ganzheitlichen Ansatz, den sie in ihrer Dissertation unter poimenischer Perspektive entwickelt hat (vgl. Seelsorge als Leibsorge. Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge, Stuttgart u. a. 2000), auch für die Religionspädagogik fruchtbar zu machen versucht.
Mit der Fokussierung auf den Begriff Mitgefühl will N. drei Forschungsanliegen aufnehmen: Erstens sieht sie in der Entwicklung und Förderung der Kompetenz zu Mitgefühl die Möglichkeit zur Gewaltprävention. Zweitens sieht sie in diesem Terminus, der »dem theologischen Anliegen des christlichen Verständnisses von ›Barmherzigkeit‹ korrespondiert«, neue Chancen für religionspädagogisches Handeln durch die Ermöglichung von Anknüpfungspunkten, »die zunächst über den Barmherzigkeitsbegriff erschwert sind« (XV). Drittens »verbinden sich mit dem Forschungsgegenstand der Entwicklung von Mitgefühl ethische Implikationen, die jedoch zugleich emotionale Aspekte konstitutiv einbeziehen« (XVI) und damit zu einer Neuakzentuierung von emotionalen Dimensionen ethischer Bildung führen können.
N.s Ausführungen sind von einem »eher weiten, synthetischen Interesse« (XVII) geleitet und verfolgen einen phänomenologisch-hermeneutischen Ansatz mit der Lebensorientierung als Bezugspunkt. Bearbeitet wird die Thematik in drei Teilen. Im ersten Teil (»Gewalt« [1–62]) werden grundlegende Ergebnisse der interdisziplinären Forschung zur Kinder- und Jugendgewalt vorgestellt, wobei hier der Schwerpunkt auf die sozialen Bedingungsfaktoren für das Entstehen von Gewaltbereitschaft sowie die Genderproblematik gelegt wird. Darauf folgend beleuchtet N. das Thema »Gewalt« aus religionspädagogischer Perspektive. Zu Recht fragt sie: »Liegt nicht auch ein Grund für die jugendliche Abneigung der als langweilig empfundenen biblischen Texte darin, dass man schon vorher weiß: Es geht ja immer ums ›Liebsein‹, Verstehen, Nächstenliebe etc. und die Aus- bzw. Abgrenzung negativer Gefühle in Kirche und Religionsunterricht?« (50) Gleichzeitig belegt sie, dass Kinder »keinesfalls durch die gewaltsamen Anteile der Exodusgeschichte überfordert sind« (59). Vielmehr suchten sie nach »eigenen Verstehensmöglichkeiten und -lösungen« (ebd.). Zentral sei, dass »eine Gewaltsituation in erster Linie emotionale … Reaktionen der Kinder hervorruft« (ebd.). Deshalb sollten emotional-empathische Kompetenzen der Kinder stärker in den Blick genommen werden. Damit ist die Brücke zum zweiten Teil (»Mitgefühl« [63–157]) geschlagen. N. beginnt mit theologischen Perspektiven und grenzt Mitgefühl von Mitleid ab. Biblisch-theologisch gesehen ergibt sich hier eine Nähe zum Begriff der Barmherzigkeit. »So­wohl inkarnationstheologisch (Gott wird Mensch) als auch kreuzestheologisch (Gott stirbt am Kreuz) ist eine christliche Gottesbeziehung nicht apathisch vorstellbar. Das aber heißt: Gottes leidenschaftliche Liebe zum Menschen wählt den ›menschlichen‹, den leiblichen, emotionalen und mitfühlenden Weg.« (83) Die em­pathische Zuwendung Gottes kann als » seine Kommunikation mit den Menschen bezeichnet« werden, »das zuvorkommende Mitgefühl Gottes ermöglicht erst den Impetus einer auf Mitgefühl basierenden Beziehungsstruktur zwischenmenschlicher Art.« (103) Diese Ausführungen ermöglichen eine Verknüpfung mit emotionspsychologischen Reflexionen, indem N. Mitgefühl oder mit­fühlende Empathie in erster Linie als affektive Reaktionen be­schreibt. Für die Entwicklung von Mitgefühl sind »sowohl die sichere Bindung an elterliche Bezugspersonen als auch die Sensibilität von ErzieherInnen« (127) entscheidend. Daneben gibt es weitere Einflussfaktoren, denen sich N. im Folgenden widmet. Insgesamt hält sie zu Recht fest, dass der Komplexität der Bedingungsfaktoren nur »in multiperspektiven Ansätzen« zu begegnen ist, was durchaus als Chance verstanden werden kann, »insofern einzelne Faktoren keinen Ausschließlichkeitsanspruch erheben können und die konstruktiven Möglichkeiten (religions)pädagogischen Handelns damit wachsen« (157).
Welche Bedeutung der Entwicklung von Mitgefühl für religionspädagogisches Handeln zukommt, legt N. im dritten Teil (»Mitgefühl als Schlüssel zur ethischen Bildung: eine religionspädagogische Herausforderung« [158–283]) dar. Dabei konstatiert sie eine Vernachlässigung emotionaler Bildung und betont, dass Religiosität »in ihrer Bandbreite von affektiven, kognitiven und pragmatischen Dimensionen … nicht auf Kosten eines oder mehrerer Aspekte verkürzt werden« (160) dürfe. Deutlich grenzt sie sich von der in der psychologischen Tradition vorherrschenden kognitiven Ausrichtung ab, »der von theologischer Seite eine vorrangig sprachlich gebundene und auf vernunftbezogene Einsicht abzielende Ethik korrespondiert … Erst das Zusammenfließen affektiver Grundbedingungen mit kognitiv-reflektierender Durchdringung wird dem umfassenden Anliegen ethischer Bildung gerecht.« (180) Allerdings ist die Bedeutung der emotionalen Dimension in religiösen Lehr-Lern-Prozessen noch weitgehend unerforscht. Unter Verweis auf Kabisch, Staudigl, Sistermann, Baldermann und Schreiner stellt N. die wichtigsten Ansätze dar und betont zu Recht, dass angesichts abnehmender religiöser Tradierungsprozesse »die emotionale Verankerung religiöser Lernprozesse für die Entwick­lung des Selbstbildes junger Menschen zentral« (200) ist. Allerdings dürfe dies »keinesfalls auf Kosten des Korrektiv ›Kognition‹ gehen« (201). Für den Bereich ethischer Bildung sieht N. im Mitgefühl eine »Brücke zwischen intrasubjektiver Religiosität und intersubjektiver Ethik« (210). Dies impliziere auch eine »Korrektur der religionspädagogischen Ausbildung und Praxis, die sich zu sehr auf die kognitiv orientierten Modelle der Entwicklungspsychologie fokussiert hat« (214). Besonders der Parameter »Geschlecht« solle eine stärkere Beachtung finden. Gleichzeitig impliziere die Perspektive des Mitgefühls eine Absage an »eine ›Heile-Welt-Pädagogik‹, die Aggressivität pauschalisierend verteufelt« (221) und damit nicht in der Lage ist, zwischen konstruktiver und destruktiver Aggression zu differenzieren.
»Religionspädagogisch bedeutet dies, dass weder die harmonisierende Rede vom ›allzeit-lieben-Gott‹ noch der moralische Anspruch vom ›allzeit-lieben-Menschen‹ ethische Bildung induziert.« (ebd.) Lebensgeschichtlich betrachtet sieht N. die Notwendigkeit, »möglichst früh anzusetzen, um die Förderung mitfühlender Kompetenzen in den Blick zu nehmen« (231). Damit rückt der Lernort Familie in das Interesse, denn »so einfach es klingt ist es auch: Wer Mitgefühl erfährt, kann dies auch weitergeben!« (242) Auch der Kindergarten ist hier ein wichtiges Lernfeld. Hinsichtlich des Religionsunterrichts an der Grundschule plädiert N. für die Förderung emotionaler Kompetenz, betont aber gleichzeitig, dass Empathieförderung die Unterrichtsplanung nicht verabsolutierend bestimmen dürfe, sondern »sich bestenfalls auf der Basis einer subjektorientierten Didaktik ereignen« (266) könne. Konkretisiert wird das am Beispiel des Einsatzes von bibliodramatischen Elementen im Religionsunterricht sowie an der Kindertheologie als subjektorientiertem Zugang. Dass dies auch Auswirkungen auf die religionspädagogische Ausbildung hat, deutet N. an: »In der Universität muss beginnen, was in der Schule und Gemeinde Wirklichkeit werden soll.« (282)
Insgesamt ist N. eine überzeugende Darstellung gelungen. Konsequent entfaltet sie ihr Grundanliegen und markiert damit ein wichtiges Desiderat religionspädagogischer Forschung. Besonders zu würdigen ist, dass N. sich dem Bereich der emotionalen Bildung widmet, ohne begrifflich unklar zu werden, wie es bei anderen Veröffentlichungen bisweilen zu beobachten ist. Dem Buch ist eine breite Rezeption zu wünschen!