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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

437–440

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weyel, Birgit

Titel/Untertitel:

Praktische Bildung zum Pfarrberuf. Das Predigerseminar Wittenberg und die Entstehung einer zweiten Ausbildungsphase evangelischer Pfarrer in Preußen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XI, 315 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 134. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-148881-8.

Rezensent:

Christian Albrecht

Die Geschichte der Ausbildung zum geistlichen Beruf ist zugleich eine Geschichte der kirchlichen und gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen an den Pfarrberuf. Und die Geschichte der auf das Studium folgenden, zweiten Ausbildungsphase ist zugleich eine Geschichte der Vermittlungsbemühungen zwischen theoretischer Bildung und praktischer Kompetenz im Pfarrberuf. Insofern liegt die exemplarisch rekonstruierte Geschichte eines Predigerseminars, zumal wenn sie in den Kontext der Entstehung einer zweiten Ausbildungsphase gestellt wird, im Schnittfeld zweier prinzipieller Themen der Praktischen Theologie.
Birgit Weyel, inzwischen Professorin für Praktische Theologie in Tübingen, hat sich in ihrer 2004 abgeschlossenen Berliner Habilitationsschrift diesem Themenkomplex gewidmet. Ihre Arbeit reicht von der Gründung des Wittenberger Predigerseminars 1817, das zur freiwilligen Weiterbildung privilegierter Kandidaten eingerichtet worden war, bis zum preußischen Kirchengesetz 1898, das für alle Kandidaten entweder den Besuch eines Predigerseminars oder aber ein gemeindliches Lehrvikariat verbindlich vorschrieb. Die Arbeit umfasst also einen Zeitraum, an dessen Beginn die ersten Bemühungen um die konzeptionsgeleitete Strukturierung der Kandidatenzeit liegt und der mit der Etablierung eines geregelten, zweigliedrigen Ausbildungsganges für alle preußischen Pfarrer endet.
Die im Untertitel der Arbeit insinuierte Konzentration auf das Predigerseminar Wittenberg stellt bei Lichte besehen eine Untertreibung dar. Faktisch werden theologisch-programmatische, kirchenpolitische und organisatorische Auseinandersetzungen um das angemessene Konzept einer zweiten Ausbildungsphase rekonstruiert. Bildungs- und Ausbildungsstrategien werden als Teil eines umfassenden Professionalisierungsbestrebens erkennbar ge­macht – eines Professionalisierungsbestrebens, das seinerseits im Kontext dynamischer Modernisierungsschübe steht und im Zu­sammenhang von ganz heterogenen Interessen daran, den Ort der Kirche in der sich zusehends formierenden bürgerlichen Ge­sell­schaft zu bestimmen. Das Wittenberger Predigerseminar und die Auseinandersetzungen um seine Aufgabe bilden dabei de n– Konkretheit verbürgenden – roten Faden des Gedankenganges.
Im Einzelnen fragt W. zunächst nach der Vorgeschichte des modernen Predigerseminars in pastoraltheologischen Zusammenhängen, in Bildungs- und Ausbildungsdiskursen sowie in Debatten um die zeitgenössische Universitäts- bzw. Bildungsreform. Sodann wird die Gründungsphase des Wittenberger Predigerseminars ausführlich rekonstruiert, und zwar im Blick auf die Auseinandersetzungen um die verschiedenen Anforderungen, Funktionszuweisungen und Ressentiments, die es auslöste. Ein Kleinod stellt hier die Mitteilung und geschickte Typisierung der zahlreichen Voten aus den theologischen Fakultäten Berlins und Halles dar. (Insbesondere zu nennen ist das ausführliche Referat des ablehnenden und ungedruckten gemeinsamen Votums Schleiermachers und de Wettes, die energisch für die Einrichtung eines Lehrvika­riates, aber gegen die Einrichtung eines Predigerseminars votieren: Dessen Organisationsform und Ausbildungskonzept müsse zwangsläufig dem zuwiderlaufen, was in der Ausbildung protestantischer Geistlicher maßgeblich sein sollte, nämlich Selbständigkeit und freie Entwick­lung – mithin sei zu befürchten, »daß diese Anstalt früher oder später sich in einen Hort der Einseitigkeit und Geistesbeschränkung verwandeln wird« [zitiert nach W., 73].) Des Weiteren werden die unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen zur Gestaltung der Ausbildung im Predigerseminar (Praktische Bildung als Vervollkommnung der wissenschaftlichen Bildung oder als Einübung exemplarischer christlicher Lebens­gemeinschafts­formen oder als Ort der Bildung des kirchlichen Gei­stes) in monographischen Miniaturen auf die Figuren der ers­ten Direktoren (Karl Ludwig Nitzsch, Leonhard Heubner, Richard Rothe) und deren jeweilige theologisch-religiöse Rahmendisposition bezogen.
Im zweiten Teil der Arbeit, der den Zeitraum ab der Jahrhundertmitte umfasst, weitet sich der Blick. Die Debatten um die zweite Ausbildungsphase werden jetzt abschnittsweise in verschiedenen Perspektiven nachgezeichnet – so etwa im Blick auf ihre Inanspruchnahmen für Richtungsauseinandersetzungen durch kirch­liche Synoden und in kirchlichen Denkschriften; so etwa im Horizont der theologisch-enzyklopädischen Umformung der Praktischen Theologie zur empirischen Wissenschaft im letzten Drittel des 19. Jh.s und schließlich im Zusammenhang der Gründung vergleichbarer, aber eben je eigen akzentuierter Gründungen von weiteren Predigerseminaren in Preußen.
Insgesamt zeigt W.: Die Konzepte zur zweiten Ausbildungsphase stimmen darin überein, dass sie die Dynamik der religiösen Praxis und ihrer gesellschaftlichen Funktion in die theologischen Bildungsprozesse aufnehmen sollten. Ob dies freilich in modernitätskritischer oder in vermittelnd-ausgleichender Absicht geschehen sollte, darin unterscheiden diese Konzepte sich signifikant.
Die Arbeit besticht durch die darstellerische Sicherheit, mit der umfassende, generelle Themenstellungen und konkrete, exemplarische Detailerwägungen in Verbindung miteinander gehalten werden. Das geschieht so, dass die umfassendere Fragestellung in den Detailerwägungen weder verloren geht noch jene dominiert – oder umgekehrt gesagt: so, dass die Detailrekonstruktionen den Bezug zur umfassenderen Fragestellung jederzeit erkennbar sein lassen, aber auch niemals zu stark in deren Dienst erscheinen. Diese darstellerisch-methodische Kunstfertigkeit lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen. Sie zeigt sich etwa im Blick auf das Verhältnis zwischen dem umfassenden und generellen Hintergrundsthema der Monographie – die Selbstpositionierungen der Kirche in den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen – und ihrer konkreten und exemplarischen Fragestellung nach den Konzepten einer zweiten Ausbildungsphase. Sie zeigt sich aber auch im Blick auf das Verhältnis zwischen einzelnen Voten oder Stellungnahmen in den Debatten und den theologisch-religiösen Zusammenhängen, de­nen sie entstammen. Eindrucksvoll sind die Ebenenvielfalt der Themenstellung und die Fähigkeit, die gedanklichen Fäden aller Ebenen koordiniert zusammenzuhalten.
Auf diesem Hintergrund fällt es nicht ins Gewicht, ist vielleicht sogar unvermeidbar, dass man sich zu einzelnen Schlüsselbegriffen der Monographie (Bildung, Bürgertum, Moderne etc.) die innere Heterogenität der einzelnen Begriffe stärker akzentuierende und monolithische Missverständnisse vermeidende begriffs-, sozial- und ideengeschichtliche Erwägungen hätte vorstellen können. Einem anderen Leseeindruck soll indessen kurz nachgegangen werden – unter einer wichtigen Einschränkung, nämlich: dass wohlfeil, um nicht zu sagen: billig, stets jene Sorte von rezensierender Kritik ist, die fehlende Aspekte oder Perspektiven in einer Monographie moniert. Denn diese Sorte von Kritik ignoriert in der Regel hartnäckig, dass das Fehlende abseits vom Thema oder vom Zuschnitt oder auch vom programmatischen Interesse der Monographie liegt. Mit entsprechender selbstkritischer Zurückhaltung soll hier gleichwohl gefragt werden, ob der Vergleich mit zeitgleichen Konzepten zu zweiten, nachuniversitären und praxisvorbereitenden Ausbildungsphasen in verwandten Berufsständen (Juristen, Ärzte, aber auch Lehrer) manche Pointe der Konzeptionen zur Ausbildung von Pfarrern, vor allem aber manche These von W. noch schärfer hätte profilieren können. Man mag z. B. daran denken, dass die Juristen mit der Einführung eines Rechtsreferendariates in Preußen ab der Mitte des 18. Jh.s konsequent auf eine dem kirchlichen Lehrvikariat vergleichbare (und seiner Idee vorausgreifende) zweite Ausbildungsphase setzten, dagegen jeden Seminargedanken als praxisapart strikt verwarfen. Hingegen wurden auf dem Feld der Medizinerausbildung seit der Gründung der Pépinière in Berlin 1795 (einer Wohn- und Ausbildungsstätte für angehende Mili­tärärzte, in der diese nach ihrem universitären Studium eine letzte Ausbildungsphase absolvierten) Debatten um Recht und Grenzen einer eigenen, pra­xis­vorbereitenden Ausbildungseinrichtung geführt, die den späteren kirchlich-theologischen Debatten insbesondere um die monastisch-lebensweltdistanzierenden Tendenzen der Seminareinrichtung strukturell vergleichbar sind. Und auch wenn die seit 1822 in Preußen erfolgte Gründung von Lehrerseminaren des noch fehlenden, vorausgehenden universitären Lehramtsstudiums halber einen etwas anderen konzeptionellen Zuschnitt hatte als die Gründung von Predigerseminaren, hätte sich zeigen lassen können, dass mit der verbindlichen Einrichtungen der allgemeinen Lehramtsprüfung 1810 wiederum ein eigener Typus von Professionalisierungsstrategie verfolgt wurde, der sich ganz ähnlich auch in der zeitgleichen Entstehung eines ordentlichen, eignungsfeststellenden kirchlichen Prüfungswesen (dazu glänzend W., 40–51) fand. Vielleicht also hätte ein solcher Vergleich noch schärfer erkennen lassen, dass in der zweiten Ausbildungsphase die Professionalisierung der Prediger eben nicht nur durch Bildung erreicht werden sollte, sondern zugleich durch Habitualisierung – und es hätte sich zudem plastisch ge­zeigt, dass in der Pfarrerausbildung antagonistische Verkirchlichungs- und Verbürgerlichungstendenzen, die W. zu Recht hervorhebt, un­über­sicht­licherweise nicht nur auf verschiedene Ausbildungskonzepte zu verteilen sind, sondern sich teilweise in ein und demselben Aus­bildungskonzept, ja: bei ein und demselben Protagonisten unvermittelt ne­beneinander finden.
Die historischen Rekonstruktionen der Monographie erfahren in der Einleitung und im Schluss eine Rahmung, die das Gegenwartsinteresse der Arbeit artikuliert. So wird einleitend der Bezug zu den gegenwärtigen Diskussionen um Pfarrerleitbilder hergestellt, die nicht ohne historische Tiefenschärfe sinnvoll zu führen sind, weil erst die historische Rekonstruktion die Strukturmerkmale des mo­dernen Pfarrberufs hervortreten lässt. Abschließend wird dann der Ertrag der Arbeit insbesondere für ein verschärftes Problembewusstsein im enzyklopädischen Selbstverständnis der Praktischen Theologie bezogen, die ganz unabhängig von und lange vor ihrer institutionellen Verortung in der ersten oder zweiten Ausbildungsphase ihren religions- und kulturtheoretischen Anspruch darauf richten muss, kirchliches, öffentliches und individuelles Christentum in der Neuzeit »in wechselseitigen Kontakt bringen zu können« (271). Schon in der materialen Rekonstruktion, spätestens aber in deren Rahmung zeigt sich die Arbeit als programmatisches Exempel einer alten, wieder stärker zu kultivierenden Sorte von Praktischer Theologie: einer Praktischen Theologie nämlich, die sich den Problemstellungen dieser theologischen Disziplin durch historisch versierte und systematisch verfahrende Theoriefähigkeit gewachsen zeigt.