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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1045 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Grünzinger, Gertraud u. Felix Walter

Titel/Untertitel:

Fürbitte. Die Listen der Bekennenden Kirche 1935–1945. Im Auftr. d. Evang. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. XLII, 233 S. gr. 8°. Geb. DM 48,­. ISBN 3-525-55426-5.

Rezensent:

Reinhard Rittner

1497 Namen umfaßt die Dokumentation, die die Bearbeiter aus den sogenannten Fürbittlisten der Bekennenden Kirche erstmals systematisch erfaßt haben. Die Personen werden soweit möglich biographisch verifiziert. Unter Angabe des Jahres werden die Maßnahmen beigefügt, mit denen der NS-Staat den kirchlichen Unruheherd beseitigen und die widersetzlichen Pfarrer wie Laien in das totalitäre System einpassen wollte. Die Palette der Willkür war groß, sie reichte von Drohungen und Behinderungen über Gehaltssperren, Ausweisungen und Redeverbote bis zur Entfernung aus dem Amt oder gar zur Inhaftierung.

Die vorliegende Aufstellung vermittelt, wie die NS-Religionspolitik gegenüber den Mitgliedern der Bekennenden Kirche mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden sollte. Nach der ersten Kulmination im Frühjahr 1935 setzte mit dem Scheitern der Kirchenausschüsse und dem Ausbleiben der von höchster Stelle angekündigten Kirchenwahl im Jahr 1937 und der Folgezeit eine Flut von Strafmaßnahmen ein, die erst nach Beginn des Zweiten Weltkriegs abebbt. Die Kirchengebiete wurden unterschiedlich hart getroffen, je nach dem Maß ihrer "Zerstörung", die Evangelische Kirche der altpreußischen Union besonders in den Provinzen Brandenburg mit Berlin und Ostpreußen, aber auch die Landeskirchen in lutherisch Sachsen und Nassau-Hessen. Die Maßnahmen trafen im Unterschied zur Anfangsphase der NS-Herrschaft nicht mehr die Institutionen und ihre Repräsentanten, sondern Personen, die nunmehr ganz individuell ihr christliches Bekenntnis gegenüber Inkriminierung bewähren mußten.

Die Bearbeiter haben tabellarische Aufschlüsselungen beigefügt, u. a. nach Berufen, was sozialgeschichtlich interessant ist, denn das staatliche Zwangsensemble richtete sich gegen Arbeiter, Angestellte und Landwirte sowie einige Akademiker ebenso wie gegen eine große Zahl der Geistlichen in unterschiedlichen Funktionen. Damit wird Klaus Scholders These verifiziert, daß nämlich "Widerstand" in der NS-Ära "durchweg von unten" kam, eben von "einfachen" Pfarrern und Gemeindegliedern, unter ihnen 64 Frauen. Die Zusammenstellung hat den Charakter eines "Gedenkbuches", ist aber für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung insofern von Bedeutung, weil namentlich und konkret festgehalten wird, wie das systemwidrige Verhalten ganz bestimmter Menschen im totalitären Staat geahndet wurde. In der bereits länger währenden Debatte über "Verfolgung und Widerstand" wird somit ein notwendiger Beitrag zur Differenzierung und Konkretisierung vorgelegt.

Theologisch kommt noch etwas anderes hinzu. Fürbitte ist seit alters her christlicher Brauch. Sie wurde in den Bedrängungen und Verfolgungen einer christentumsfeindlichen Öffentlichkeit neu entdeckt. Die Bibel bezeugt bekanntlich ein Gegenüber, das sich dem Schrei und der Not der Bedrängten nicht verschließt. Die Fürbitte hat darum als Adressaten keine starre Größe, sondern einen dynamischen, wandelbaren, mitgehenden Gott. Daran erinnert auch die von den Bearbeitern zu Recht angeführte Handreichung über die Kraft der Fürbitte aus dem Jahre 1937. Indem es der Bekennenden Kirche, vornehmlich auf Initiative der (II.) Vorläufigen Leitung der DEK, mit ihren Rundbriefen gelang, regelmäßig, kurzfristig und großflächig den Informationsfluß über die Zwangsmaßnahmen mit regionalen und örtlichen Leitungsorganen in Gang zu halten, wurde aus dem kirchlichen Faktum gemeindlicher Fürbitte ein gesellschaftsgeschichtliches "Politikum", was die Herausgeberin ihrer umsichtigen Einführung mit Recht hervorhebt. Die Fürbittgottesdienste haben die Isolierung der Bekennenden Kirche samt ihrer ekklesiologischen Engführung nicht aufgehoben, wohl aber ein sichtbar tapferes Zeichen gesetzt.

Wer die archivalische Überlieferung der Fürbittlisten neben die vorliegende Veröffentlichung legt, kann die Mühe einschätzen, die gerade mit Personenrecherchen verbunden ist. Quellenhermeneutisch ist zu beachten, unter welch erschwerten Bedingungen die Berliner Kanzlei der Vorläufigen Leitung die Namenslisten erstellen mußte und wie groß die Abhängigkeit von den regionalen Zulieferern war.(1) Nicht zu unterschätzen sind auch die Schwierigkeiten der Nachrichtenübermittlung im Überwachungsstaat. Methodisch werden hier Quellen aus bekenntniskirchlicher Perspektive publiziert, die auch im "Pluralismus der Lesarten" ihr Eigengewicht haben. Gewidmet ist das Buch Eberhard Bethge zum 85. Geburtstag, dem Nestor der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. Er hat zwar mit moralischem Gestus, aber in der Sache konsequent die humanitär-politische Dimension der Kirchengeschichte angemahnt. Hier wird ihm eine Gabe zuteil, die zumindest auf einem Sektor seinem Anliegen entgegenkommt.

Fussnoten:

(1) Ergänzung: Schieckel, Wolfgang: geb. 14.5.1913, gefallen 15.1.1942 auf der Krim. 1938-1940 Vikar in Leipzig. ­ Der Rez. kann aufgrund eigener Forschungen zu Paul Schipper (in: Delmenhorster Kirchengeschichte, Delmenhorst 1991, 215 ff.) die Angabe "Maßnahme infolge der Gebetsliturgie vom 30.9.1938" nicht verifizieren.