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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

433–435

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mildenberger, Irene

Titel/Untertitel:

Der Israelsonntag – Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Untersuchungen zu seiner homiletischen und liturgischen Gestaltung in der evangelischen Tradition.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 2004. X, 389 S. 8° = Studien zu Kirche und Israel, 22. Kart. EUR 15,00. ISBN 3-923095-77-5.

Rezensent:

Helmut Schwier

Die Untersuchung wurde bereits 1999 als Dissertation von der Theologischen Fakultät Heidelberg angenommen (Gutachter: Rudolf Bohren und Lothar Steiger), aber erst fünf Jahre später veröffentlicht. In der Zwischenzeit erschienene Literatur – wie die EKD-Studie Christen und Juden III – wurde nur wenig berücksichtigt. Der wichtige theologische Konsenstext der Leuenberger Kirchengemeinschaft (»Kirche und Israel«) aus dem Jahre 2001 bleibt unbeachtet. Die parallel zur vorliegenden Untersuchung erschienene Arbeit von Evelina Volkmann, die vor allem die Predigthilfeliteratur von 1946–1996 zum »Israelsonntag« analysiert, wird allerdings eingehend zur Kenntnis genommen (vgl. vor allem 6 f., Anm.13; 305–308 sowie die Rezension der Vfn. in: ThLZ 128 [2003], 664 ff.).
Die Vfn. verortet ihre Untersuchung innerhalb des durch den christlich-jüdischen Dialog angestoßenen Neuaufbruchs in den christlichen Kirchen und Theologien, die sie im Einleitungskapitel knapp skizziert (1–27). In den drei großen Hauptteilen werden dann die Geschichte des 10. Sonntags nach Trinitatis (Teil A: 30 ff.), die Historie von der Zerstörung Jerusalems (Teil B: 83 ff.) und die Predigttradition, exemplarisch an je einer Predigt Martin Luthers und Valerius Herbergers sowie eines Überblicks über die Predigt­tradition bis ins 20. Jh., analysiert (Teil C: 182 ff.). Eine kompakte Zusammenfassung, die alle wesentlichen Ergebnisse übersichtlich und klar präsentiert, samt Ausblick (309 ff.) beschließt die Untersuchung; es folgen noch zwei Anhänge mit den Predigten Luthers und Herbergers (325 ff.) und Tabellen zu den Sonntagsliedern des 10. Sonntags nach Trinitatis (355 ff.) sowie ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis (363 ff.).
Die wesentlichen Ergebnisse sind folgende: Als Evangelium für den 10. Sonntag nach der Pfingstoktav hat sich erst relativ spät, im 11. Jh., Lk 19,41 ff. (Jesus kündigt die Zerstörung Jerusalems an) allgemein durchgesetzt. Die mittelalterlichen Predigten zu diesem Text zeigen kaum historisches Interesse an der Zerstörung Jerusalems, sondern legen allegorisch aus. Das Bewusstsein einer besonderen zeitlichen Nähe zum jüdischen Gedenktag (9. Aw) ist noch nicht erkennbar. Erst in der Reformationszeit erhält der Sonntag seine besondere thematische Prägung als Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Vor allem die ab 1534 greifbare Entscheidung, an diesem Sonntag die Geschichte der Zerstörung Jerusalems in der Zusammenstellung Bugenhagens im Gottesdienst zu verlesen, bildete eine über Jahrhunderte wirkungskräftige Tradition. Die hier vorliegenden Deutungen haben zwar auch eine erwartbare Nähe zu den seit der Alten Kirche verbreiteten Deutungsmustern (Weissagung und Erfüllung, Ablösung der jüdischen Religion durch das Christentum, Strafe für den Tod Jesu), setzen aber, wie detailliert nachgewiesen wird, eine neue Deutung hinzu: Die Zerstörung ist ein bleibendes warnendes Beispiel für die Christen. Dadurch wird die Deutung als Strafe für den Tod Jesu in der Regel unbrauchbar, obwohl sie zumeist nicht explizit zurückgewiesen wird. Auch in der liturgischen und musikalischen Gestaltung erhält dieser Sonntag den Charakter eines Bußtages der Kirche (die Vfn. untersucht hier ausführlich die verschiedenen Gesangbuchausgaben sowie die entsprechenden Kantaten J. S. Bachs; 157–181). Dieser Charakter zeigt sich auch in den Predigten, die ausführlich analysiert werden. In Liturgie und Predigt wird eine distanzierte Zuschauerhaltung der Christen auf die vermeintlich gerechte Strafe der Juden samt dadurch ermöglichten weiteren judenfeindlichen Einstellungen gerade vermieden. Hier müsste man allerdings beachten – wie die Vfn. selbst in anderem Kontext erwägt (308) –, dass die gepredigte Predigt noch einmal von der gehörten Predigt zu unterscheiden ist. Die Äußerung Herders, auf die die Vfn. verweist (112), wendet sich gegen die agendarische Verordnung, den Bugenhagentext zu verlesen, nicht nur weil Herder darin eine »Reliquie des Aberglaubens« sieht, sondern auch, »damit nicht der christliche Haß gegen eine unschuldige und gegenwärtig durch weltliche Rechte beschützte Nation auf solche Weise noch heilig und und kirchenagendemäßig gestärkt werde«. Erst im 19. Jh. wurde das Thema des Sonntags erweitert auf die Beziehung von Christen und Juden, und zwar zunächst verursacht durch vermehrte Kollektensammlungen für die neu entstandenen Judenmissionsgesellschaften, was wiederum auch die Prediger thematisch aufgriffen. Nach 1945 wurden dann besonders an diesem Sonntag die Schuld der Kirchen gegenüber den Juden und das mühsam errungene neue Verhältnis von Chris­ten und Juden, Kirche und Israel thematisiert; die Vfn. untersucht hier auch landeskirchliche Verlautbarungen aus den Jahren 1947–49 und zeigt daran die mühsamen Schritte, aber auch die frühe Klarheit z. B. in Briefen und Kollektenabkündigungen des badischen Landesbischofs J. Bender, der dazu wohl von dem Heidelberger Stadtpfarrer Hermann Maas aufgefordert worden war, sowie die sich allmählich verändernde Rolle der alten Judenmissionsvereine, wodurch die vorhandene Stabilität der Kollektenzuordnung auch thematische Veränderungen ermöglichte (76–82).
Im Blick auf die gegenwärtige Situation und Debatte votiert die Vfn. zu Recht gegen eine voreilige Streichung des Themas Gedenktag der Zerstörung Jerusalems und für kritische Fortschreibungen (zumal angesichts der zeitlichen Nähe zwischen dem jüdischen und dem christlichen Gedenktag) sowie für eine thematische Entflechtung der inzwischen mit dem Israelsonntag verbundenen unterschiedlichen Themen samt behutsamen Änderungen der Perikopenzuordnungen, die mit Inkrafttreten des Evangelischen Gottesdienstbuches (1999) begonnen, aber noch nicht gelöst wurden (322–325).
Die Arbeit besticht durch eine gleichermaßen präzise wie detailreiche historische Untersuchung, die zum Teil weit verstreute und schwer zugängliche Quellen, zudem aus allen Epochen von der Alten Kirche bis zur Gegenwart, erschließt, kenntnisreich analysiert und dadurch ein differenziertes Bild zur Predigt- und Liturgietradition des 10. Sonntags nach Trinitatis rekonstruiert, das manche gängigen Vorurteile über vermeintlich ungebrochene ju­denfeindliche Traditionen gerade dieses Sonntags zurückweist. Der historische Sachverhalt ist komplexer. Diesen zu erschließen, ihn nicht mit anachronistischen Fragestellungen zu verfehlen und das Ergebnis heutigen praktisch-theologischen Fragen zu öffnen, ist das Ziel der Arbeit, das die Vfn. in ihrer glänzend geschriebenen Untersuchung mehr als erreicht hat.