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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

423–425

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Marquet, Jean-François

Titel/Untertitel:

Liberté et existence. Étude sur la formation de la philosophie de Schelling. La nuit surveillée.

Verlag:

Paris: Cerf 2006. 592 S. 8°. Kart. EUR 57,00. ISBN 2-204-07701-1.

Rezensent:

Karl H. Neufeld

Diese Neuausgabe einer vor über 30 Jahren veröffentlichten Untersuchung zeugt von der Zeitverschiebung im geistigen Interesse zwischen dem französischen und dem deutschen Raum. Freilich entstand sie vor der unmittelbar nachfolgenden großen Arbeit von X. Tilliette, Schelling – Une philosophie en devenir (Paris 1970), aber beide markieren einen Einsatz, für den sich seit der Arbeit von W. Schulz Mitte der 50er Jahre und ihren Wirkungen auf Theologen wie K. Hemmerle und W. Kasper im deutschen Raum nichts Vergleichbares zu dieser Zeit nachweisen lässt. Nach einer »Introduction« (11–38) gibt es drei große Teile, von denen der erste »La liberté et l’existence« (41–203), der zweite »L’existence« (207–363) und der dritte »L’existence de la liberté« (367–519) behandelt, einmal in drei und zweimal in vier Kapiteln. Die »Conclusion« (521–570) steht unter dem Titel »L’esprit«; es folgen ein Anhang »Schelling et la ›théo­sophie germanique‹« (571–586) und die Bibliographie (587–590).
Wie der Untertitel verdeutlicht, geht es um eine Nachzeichnung des Werdens der Schellingschen Philosophie, eine Aufgabe, die sich aus einer ersten Unübersichtlichkeit der Veröffentlichungen und der sonstigen bekannten Quellen wie Briefwechsel u. Ä. ergibt. Ein Verständnis sei hier nur aus dem Werden dieses Denkens möglich (11). Der junge Tübinger Theologe wächst unter dem Anstoß von Leibniz, Oetinger, Ploucquet, Jacobi, Hemsterhuys, Herder, dann Kant und vor allem Fichte in seine philosophische Berufung hinein. Sachlich setzt die bei »L’opposition absolue« (41–88) zwischen Freiheit und Existenz an. Im Anschluss an und in Auseinandersetzungen mit Fichte wird eine eigene Philosophie entworfen, deren Schritte oft überraschen und nach ihrem Sinn fragen lassen. Wie hängen Unendliches und Endliches zusammen, wie sind sie zu konzipieren, um einen nachvollziehbaren Zusammenhang aufzudecken? Schelling suchte dabei naturwissenschaftliche und naturphilosophische Ideen zu benutzen und zu berücksichtigen, was im ganzen ersten Teil eine Notwendigkeit ins Spiel bringt, die sich immer wieder als problematisch herausstellt, gerade weil sie als solche nur unzulänglich in den Blick tritt. Damit ist aber eine der Bedingungen gegeben, die auch in der fruchtbarsten Schaffensperiode Schellings zwischen 1801 und 1806 (vgl. 207) wirksam bleiben.
Der zweite Teil unterstreicht die »orientation leibnizienne« (214), greift immer wieder die Stichworte Identität und Differenz auf und stellt die »philosophie idéale« als Kontrapunkt zur »philosophie de la nature« (vgl. 223) heraus, wobei die Natur als »manifes­tation de l’identité absolue« (224) genommen ist. Es bleiben aber Unsicherheiten. Der theologische Gedanke des Sohnes »n’est pas seulement celui qui nous fait acceder au Père – il est, plus fondamentalement, celui en qui l’absolu devient pour la première fois réalité actuelle« (226).
Hier kommt auch die Mystik ausdrücklich ins Spiel, ein neues Vokabular, ein gewisses Schwanken, Mehrdeutigkeit von Begriffen, letztlich das Problem »Philosophie et religion« (296) führen zur »existence« (311–363), wo es um einen »panenthéisme« (311) und eine »identité avec Dieu« (322) geht. Was 1801–1802 noch »l’unité de l’infini et du fini« gewesen sei, »énoce maintenant leur unité absolue« (348). Am Ende steht »une nouvelle conception de la philosophie: cellel-ci n’est plus l’exposition d’une manifestation intemporelle ... mais histoire d’une révélation progressive« (363).
Der dritte Teil beginnt mit »La crise de l’idéalisme allemand« (367–413). »Aucun ne met en doute qu’avec Schelling la pensée spéculative n’ait atteint un sommet indépassable« (367). Fragen nach Bedingungen vorphilosophischer Art werden akut. In diesem Zusammenhang »le vieux mot de foi va servir de symbole à toutes ces aspirations confuses« (372). Schüler und Zeitgenossen werden für ein klares Verständnis wichtig. Schelling versucht ab 1809 seine »philosophie de la liberté« (382). Was äußerlich als Vervollständigung des Systems von 1801 geboten werde, sei aber in Wirklichkeit »une conversion radicale de la réflexion schellingienne« (388) und markiere einen »échec final de la philosophie de l’identité« (393). Mit den Namen Tauler, A. Silesius und J. Boehme stoßen wir auf Quellen und Anreger, die belegen, welchen Einfluss vorphilosophische Ideen und Vorstellungen auf das philosophische Denken haben können, das »en dernière analyse, une philosophie de la Révélation« (425) sein möchte. Da ist selbst von der Vorbereitung einer religiösen Revolution und einer neuen Reformation die Rede (vgl. 449). Vom Wollen heißt es, es sei »vouloir de se révéler« (453). Gott sei »l’être de tous les êtres« (das Wesen aller Wesen), »qui le pousse à se ›communiquer‹ – bref, l’amour« (459). Auf weitere Einzelheiten dieser Verbindung von biblischem und philosophischem Denken braucht hier nicht eingegangen zu werden. »La difficulté d’être« (449–480) leitet ja über zu »L’histoire et l’a priori« (481–519), das vom Ende her noch einmal die Ausgangsfrage aufgreift.
Dass es sich um ein faszinierendes Denken handelt, kann die Fragen des Theologen nicht aus der Welt schaffen, der seine Aufgabe auch in einem Denken sieht, dieses aber von vornherein anders situiert. In diesem Sinn sind der Idealismus und besonders der späte Schelling in seinem Umgang mit dem Christentum bis heute eine Herausforderung. Es ist der Versuch, Werden und Ent­wick­lung zu denken, Geschichte zu verstehen und doch die zeitübergreifenden Wirklichkeiten zu respektieren, die Abhängigkeit des Geschaffenen und Endlichen anzuerkennen und zugleich die Freiheit als Gabe und Aufgabe ernst zu nehmen; Welt und Person je in ihrer Weise gelten zu lassen und in ihrer vielfachen Verbindung aufzuweisen. »L’Esprit, étant le répondant actuel de l’unité primitive, va donc reprendre et dépasser le Père et le Fils, et apparaitre comme leur ›conscience commune‹« (463). Ist diese Lösung wirklich befriedigend? Schelling selbst hat drei Entwürfe seiner Weltzeitalter hinterlassen, in denen diese Überlegungen formuliert sind. Genaue Entscheidungen sind schwierig. Bis 1946 war nur die dritte Fassung bekannt. Die Philosophie der Freiheit musste schließlich die Gestalt eines Berichts, einer Erzählung haben, wenn das auch erst nach einer dialektischen Untersuchung deutlich werden kann, die als solche die aktuelle Philosophie nie loslässt und es ihr nicht erlaubt, »la parfaite simplicité de la narration« (501) zu erreichen. Am Schluss bleibt die Frage nach dem Einfluss der deutschen »Theosophie« (571–586), wie das im Anhang heißt. Das ist nicht nur für den Franzosen ein Problem, sondern auch für den Theologen, und zwar konkret im Blick auf das Denken Schellings wie für jedes theologische Denken, das nicht nur Rationalismus sein kann. Die genetische Erfassung und Darstellung hilft hier zu verstehen, warum und wieso sich dieses Denken so entwickelt, wie es das getan hat, und damit werden auch die Inhalte trotz einer nicht selten irritierenden Terminologie deutlicher. Gerade für jemanden, der am Weiterwirken solchen Denkens in anderen Traditions- und Kulturkreisen interessiert ist, sind Untersuchungen dieser Art unverzichtbar, auch wenn ihre Eigentümlichkeiten vom Leser zu beachten bleiben.