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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

421–423

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Norbert, u. Jakub Sirovátka [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas.

Verlag:

Paderborn: Schöningh 2006. 191 S. gr.8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-506-75729-6.

Rezensent:

Claudia Welz

Dieser Sammelband ist die Frucht diverser akademischer Gedenkveranstaltungen und bietet einen repräsentativen Einblick in die derzeitige katholische Levinas-Rezeption in Deutschland. Die acht Beiträge des Bandes widmen sich vor allem dem Zusammenhang von theologischen, ethischen und anthropologischen Aspekten seines Werkes.
Der einführende Aufsatz von J. Sirovátka beschreibt ausgehend von biographischen Hintergründen, inwiefern Levinas’ Ethik von der Suche nach Heiligkeit initiiert ist. Die verstörende Sprache zur Deskription ethischer Subjektivität (z. B. als ›Geiselhaft‹, ›Opfer‹ und ›Obsession‹) fordere nicht das Martyrium, sondern wolle lediglich den Anspruch der Heiligkeit aufzeigen (9.15). Dies wird u. a. belegt durch Levinas’ Heidegger-kritische Rede von der »Möglichkeit, für den Anderen zu sterben: Ruf der Heiligkeit, welche der Sorge, zu sein, im Menschen vorausgeht« (16). Die Wirkung des Levinasschen Denkens wird exemplarisch anhand seines Verhältnisses zur Philosophie Sartres dargestellt, im Vergleich der Motive des ›Antlitzes‹ bzw. ›Blickes‹ des Anderen.
Unter der Überschrift »Ethik und Gottesfrage« untersucht N. Fischer zwei zentrale Themen in Levinas’ erstem Hauptwerk Totalité et Infini. Levinas’ Versuch, der Metaphysik durch die ›Fegefeuer‹ der Kritik hindurch einen neuen Weg zu eröffnen, führe Kants Projekt unter den von Feuerbach und Nietzsche veränderten Bedingungen fort und bediene sich dabei der phänomenologischen Methode als Hilfsmittel (25). In diesem Kontext findet sich die im ganzen Buch singuläre Referenz zum Titelzitat: »Für das Unsichtbare sterben – das ist die Metaphysik« (38). Metaphysik wird verstehbar als eine Beziehung zum Anderen, die nicht auf nivellierende Totalisierung, sondern Transzendenz hinausläuft.
C. Böttigheimers Beitrag beleuchtet zunächst die Bedeutung der Begriffe ›Verantwortung‹, ›Stellvertretung‹ und ›Sühne‹ in Levinas’ zweitem Hauptwerk Autrement qu’être ou au-delà de l’essence und fragt dann, welches Licht von daher auf den von Christen oft als sühnende Stellvertretung gedeuteten Tod Jesu geworfen wird. Von Levinas ist zu lernen, dass es in der Stellvertretung nicht um den Ersatz oder die Entpersönlichung des Anderen geht, sondern um Selbsthingabe und Einstehen-für-den-Anderen, der seine Stelle aus eigener Kraft nicht mehr einnehmen kann (53 f.). Mit Verweis auf die Gefahr ethischer Selbstüberforderung rekurriert Böttigheimer auf die Stellvertretung Jesu Christi als Ermöglichungsbedingung menschlicher Stellvertretung (58 f.).
F. Bruckmanns Artikel »Gut und Gabe. Ethisch Sprechen als Geburt des Subjektes bei Emmanuel Levinas (›Autrement qu’être‹)« handelt von verbalen und nonverbalen Formen der Selbsthingabe und stellt daran die Verzahnung von Sprachdenken, Ethik und Selbstwerdung heraus. Erst in der Erfüllung seiner Verpflichtung dem Anderen gegenüber wird das Subjekt es selbst, z. B. dadurch, dass es sich ihm im Sprechen öffnet oder ihm den Bissen Brot, den es zum eigenen Überleben nötig hätte, weitergibt. Der Kontrast zwischen dem – abgesehen von den unkritisch übernommenen Klischees über Husserl (67.70) – sehr guten Artikel und dem in fehlerhaftem Englisch verfassten Abstract (61) zeigt, dass es des Guten zuviel ist, jedem Artikel sowohl ein deutsches wie ein englisches Resümee voranzustellen.
U. Dickmann schreibt über den Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die bei Levinas mit der Verantwortung für den Anderen identifiziert werde und somit nicht als ontologische, sondern funktionale Bestimmung des Menschen in seiner unvertretbaren, unverfügbaren Individualität und Würde auftrete (85.90. 99).
Die beiden folgenden Artikel präsentieren Levinas als Leser anderer Philosophen. H.-J. Görtz stellt Texte zusammen, in denen Levinas sich explizit auf Rosenzweigs jüdisches Denken bezieht. Die Tugend zitatreicher Texttreue verhindert allerdings nicht, dass auch Fehler unbemerkt ab- und fortgeschrieben werden, etwa die Behauptung, das Wort ›Religion‹ komme in Rosenzweigs Stern nicht vor (113). A. Letzkus zeigt nicht nur überzeugend, wie Levinas Derridas Dekonstruktion bis hin zu ihrer »ethischen Wende« (138) beeinflusst hat, sondern auch, wie Derridas Methodik auf Levinas’ Spätwerk zurückgewirkt hat und sich die Schriften der beiden immer wieder in Anknüpfung und Infragestellung gekreuzt ha­ben.
Der letzte Beitrag im bunten Bündel ist L. Wenzlers Artikel »Menschsein vom Anderen her«. Wodurch wird der Mensch zum Menschen? In Aufnahme der Levinasschen Opposition von Ontologie und Ethik bzw. von Sich-im-Sein-Behaupten und gewaltloser Respons auf den Anruf des verwundbaren, sterblichen Anderen formuliert Wenzler pointiert zum Abschluss des Buches: »Menschsein heißt Sein für den Anderen.« (171)