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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

417–419

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Beierwaltes, Werner

Titel/Untertitel:

Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren.

Verlag:

Frankfurt: Klostermann 2007. 269 S. gr.8°. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-465-03513-8.

Rezensent:

Dirk Cürsgen

Der Band vereinigt zwölf kleinere Arbeiten von Werner Beierwaltes, die teilweise bereits innerhalb der letzten 20 Jahren publiziert wurden, teilweise bislang unveröffentlicht waren. B. ist ohne jeden Zweifel einer der bedeutendsten Kenner des Platonismus, mithin der äußerst materialreichen, vielgestaltigen und in sich höchst komplexen Geschichte der auf Platon zurückgehenden Gestalt philosophischer Reflexion sowie des Verhältnisses von griechischer Philosophie überhaupt und Christentum. Von dieser Kennerschaft legt auch Procliana neuerlich Zeugnis ab. Die Textsammlung ist die vorerst letzte in einer Reihe durchaus gleichartig konzipierter Werke, beispielsweise Denken des Einen (1985), Das wahre Selbst (2001), Platonismus im Christentum (2. Aufl. 2001) oder Platonismus und Idealismus (2. Aufl. 2004). So facettenreich die Arbeiten von B. aber auch sind, im Zentrum seines Interesses standen und stehen immer wieder zwei der wichtigsten paganen Neuplatoniker, nämlich Plotin und Proklos, welch letzterer durch die maßstabsetzende Monographie des Autors aus dem Jahre 1965 (Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik) auch eigentlich erst wieder in das historische Bewusstsein der Forschung zurückgeholt wurde, aus dem er nach seinem überragenden Einfluss auf das Denken von Mittelalter und Renaissance und spätestens seit Hegels Hochschätzung seines Systems weitgehend verschwunden war.
Dementsprechend entfalten die ersten fünf Aufsätze – nach einer Einleitung, in welcher B. die Texte des Bandes kurz präsentiert und dabei auf seinen wissenschaftlichen Weg zurückblickt – noch einmal die zentralen Topoi seines Proklos-Verständnisses. Das neuplatonische Grundprinzip aller Dinge, das absolute Eine, wird in seiner Beziehung zum Guten, zum Sein, zum menschlichen Leben und zum Göttlichen untersucht. Die Einheitsmetaphysik (Henologie) wird in all ihren von B. immer wieder pointiert hervorgehobenen Zügen und Konsequenzen ausgebreitet: der relationale Charakter von Sein und Denken sowie aller ihrer Prinzipien, d. h. die Einheit und triadische Bewegung der Gegensätze samt der Dialektik gegensätzlicher Aussagen, wie sie von der gleichzeitigen Transzendenz und Immanenz des Absoluten im Sein gefordert wird; die dynamische, lebendige, in sich differenzhafte Totalität und Identität des die Ideen denkenden Geistes mit seiner Einheit in innerer Unterschiedenheit; die unvermischte Geeintheit und Wechseldurchdrungenheit der Ideen im Denken des Nous; das genetische Gefüge von reiner, negativer, differenzloser, gegensatztranszendenter und arelationaler Einheit einerseits und relationaler, vermittelter und reflexiv-bewusstseinshafter Einheit andererseits; der Gedanke der Vermittlung zwischen Einem und Vielem, von Identität und Differenz, der die hierarchische Gliederung und den lückenlosen Zusammenhang aller Seins- und Erkenntnisformen nach sich zieht; das Modell der Entäußerung aus dem und des Wiederaufstiegs zum Ursprung auf dem Boden von Abstraktion und Rückgang in die Innerlichkeit; die Gestalten der Einung (Henosis), einmal in der geistigen Einheit des Denkenden mit dem Gedachten, dann aber in der Vereinigung mit dem Ursprung selbst mittels der Selbstnegation des Denkens.
An diese Rekonstruktion des proklischen Systems schließen sich einige Studien zu seinem Fortleben und seinen Umwandlungen in der Zeit an: eine zu Meister Eckhart, drei zu Nikolaus von Kues, eine zu Marsilio Ficino, zuletzt ein kurzer Ausblick auf Johann Gottfried Herder. – Im Aufweis durchgehender Entwicklungslinien zeichnet B. den konstitutiven Einfluss proklischer Gedanken, bei gleichzeitiger Modifikation, im Denken Meister Eckharts nach: Anhand zweier letztlich auf Proklos zurückgehender Haupttheoreme aus dem Liber de causis (der Propositionen XI und XX) – einem für die Proklos-Rezeption des Mittelalters entscheidenden Dokument (und zwar einem pseudo-aristotelischen Auszug aus den Elementen der Theologie des Proklos, der von einem arabischen Autor wohl im 9. Jh. verfasst wurde) – legt B. dessen Einfluss auf die Konzeption des Eckhartschen Gottesbegriffes frei. Die Sätze »Das Erste ist reich durch sich selbst« und »Alles Erste ist ineinander in der Weise, gemäß der es möglich ist, dass je Eines von ihnen im je Anderen ist« tragen wesentlich zur Bestimmung Gottes als des sich selbst reflexiv durchdringenden Seins, als autarke Einheit und gleichzeitig kreativ sich entäußernde Güte bei. Insbesondere durch den zweiten Satz wird auch der Brückenschlag zu Nikolaus von Kues geleistet. B. geht hier einerseits dem allgemeinen Verhältnis von Glauben und vernünftigem Wissen bei Cusanus nach, andererseits weist er Gedankenfiguren im griechischen Philosophieren auf, die von prägendem Einfluss auf Cusanus’ philosophische Theologie gewesen sind, so dass diese als neuartige Form eines christlichen Platonismus angesprochen werden kann. Allgemein skizziert B. zu­nächst den platonisch-proklischen Anteil an der cusanischen trinitarischen Henologiekonzeption im Ganzen, bevor er speziell den Einfluss der Platonischen Theologie des Proklos sowie die Bedeutung der zweiten Hypothese des platonischen Parmenides über das seiende Eine im Denken des Kardinals expliziert. Dadurch gelingt es, die Weiterführung des Gedankengutes des Proklos in Bezug auf die Möglichkeit eines nach Präzision und immer tiefergehender Wahrheit strebenden Gottesverständnisses, wie es für die Ansätze sowohl des Cusaners als auch Eckharts kennzeichnend ist, nachzuweisen – die Henologie verschmilzt immer stärker mit den Versuchen einer konzeptionellen Neuerung und Vertiefung der Gottesthematik. Die Intention, Gott immer besser zu verstehen und zu benennen, leitet auch Cusanus’ Versuch an, das ihm vor allem aus der Platonischen Theologie bekannte Konzept des ›Einen in uns‹ in seine trinitarische Gottesspekulation zu integrieren, sofern das Eine bzw. Gott sowohl den Ursprung aller Dinge als auch die innere Mitte des menschlichen Lebens darstellt. Eine weitere Station des Fortlebens proklischer Gedanken erreicht B., wenn er der Deutung des Parmenides beim Renaissanceplatoniker Marsilio Ficino nachspürt. Auch hier werden die innige Durchdringung und die sachliche Verbundenheit von Lehrgehalten platonisch-neuplatonischer Provenienz mit Grundfragen der christlichen Theologie sichtbar gemacht. Der Band schließt mit einem Ausblick auf und einem Wiederabdruck von Herders Übersetzung der proklischen Hymne auf die Göttin Athene (erstmals erschienen 1795 in Schillers Horen).
Durch seine Spezialstudien gelingt es B., die den Horizont ihrer Zeit weit übersteigende Bedeutung und Dynamik der neuplatonischen Philosophie, hier vertreten am Beispiel des Proklos, offenkundig zu machen. Die Fruchtbarkeit und in verschiedensten philosophiegeschichtlichen Kontexten stets neu aufgenommene oder sogar dauerhaft wirksam gebliebene argumentative Kraft der neuplatonischen Metaphysik kann auf diese Weise klar hervortreten.