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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1043–1045

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Materne, U. und G. Balders [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.

Verlag:

Wuppertal-Kassel: Oncken 1995, 408 S. 8°. ISBN 3-7893-7220-X.

Rezensent:

Erich Geldbach

Auf der Bundesratstagung (= Synode) in Siegen 1991 wurden die beiden Bünde Ost und West des Bundes Ev.-Freikirchlicher Gemeinden wieder zusammengeführt. Sehr bald nach der Wende schon hatte man im Osten den Versuch gemacht, sich der Vergangenheit zu stellen und das Verhalten einer Wertung zu unterziehen. Durch die Zusammenführung wurde dieser Prozeß verstärkt. Das Ergebnis ist das vorliegende Buch, das erste Ausarbeitungen unternimmt und zahlreiche Einzelbeobachtungen von unmittelbar Betroffenen bietet. Der von 1981 bis 1991 amtierende Präsident des Ost-Bundes, Manfred Sult, schreibt im Vorwort zu Recht, daß der Bund als eine "Vertrauensgemeinschaft" funktionierte und nach außen "geschlossen" wirken mußte, aber wohl auch gerade deshalb Gegenstand der Observierung war.

Die Bundesleitung des BEFG beschloß, eine Kommission zu bilden, die sich mit der "Aufarbeitung" der Geschichte des Bundes in der DDR befassen sollte. Man nahm sich vor, das Leben der Gemeinden möglichst umfassend zu durchleuchten, authentische Zeugnisse und Erinnerungen zu sammeln, also "oral history" zu betreiben, und zugleich dem Interesse an der Stasi-Vergangenheit in den Gemeinden zu begegnen. Daneben und z. T. durch die teilnehmenden Personen miteinander verschränkt hat der "Verein zur Förderung der Erforschung freikirchlicher Geschichte und Theologie" an der Universität Münster (VEfGT) eine Arbeitsgruppe "DDR-Geschichte" ins Leben gerufen. Trotz der Tatsache, daß alle Arbeit nur nebenberuflich getan werden kann, ist in beiden Gremien erhebliches Material zusammengetragen worden. Das vorliegende Buch will keine Geschichte des Ost-Bundes vorlegen; vielmehr geht es um die Frage der Beziehungen von "DDR-Staat" und Bund. Die Herausgeber verstehen es als "Lesebuch", das auch ausgewählte Dokumente enthält.

Sicherlich wird man den Band als "vorläufig" zu charakterisieren haben. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die kleineren Kirchen oder Religionsgemeinschaften nicht von der Stasi observiert wurden, sondern bis 1988 von der Kriminalpolizei, wie es in dem wichtigen Beitrag von Rolf Dammann, dem langjährigen Generalsekretär der Ost-Bundes, erwähnt wird (51). Daher sind die Stasi-Akten recht unergiebig, obwohl sich, wie man nach der Veröffentlichung des Bandes weiß, Überraschungen aufgetan haben, die der Aufarbeitung harren. Dammann weiß, daß es unter den Gliedern des BEFG auch IMs gab. Die Akten der Kripo sind, sofern überhaupt vorhanden, noch gar nicht eingesehen oder gar ausgewertet. Es wird also noch einige Zeit vergehen, ehe ein Gesamtbild entstehen kann. Dennoch ist das Buch nützlich und wertvoll, weil es die große Komplexität des Lebens in der DDR einerseits und die Religionspolitik bzw. die Akkomodation des Bundes bzw. den Widerspruch ­ z. B. Stellungnahmen zur Jugendweihe (1964, 1984), Wehrkundeunterricht (1978), Schwangerschaftsabbruch ­ gegenüber dem DDR-Staat aufzeigen kann.

Es ist schwierig, aus der Materialfülle einiges herauszustellen. Rolf Dammann stellt sich selbst die Frage, ob der Bund im Gegenüber zu staatlichen Stellen die Konfrontation, das Gegeneinander, oder ein Miteinander, die Kumpanei, gesucht habe und antwortet realistisch: "Es war wohl weder das eine noch das andere" (57). Man wollte für die Gemeinden Möglichkeiten sichern, daß diese sich in Zeugnis und Dienst bewähren konnten. Daher war keine reine Konfrontation angesagt. Aber Dammann gibt auch zu, "daß wir in manchen Aussagen oder Handlungen vielleicht zu weitherzig oder ängstlich waren, wo Kritik oder Ablehnung richtiger gewesen wäre". Wie so vieles, läßt sich dieses Fazit wohl erst im Nachhinein ziehen. Dennoch muß die Kirche insgesamt aus den Erfahrungen der Teilkirchen lernen. Die Kirche hat in Ost und West sowie in der gesamten deutschen Geschichte zu wenig Vertrautheit im Umgang mit politischer Macht und dem prophetischen Protest gegen Ungerechtigkeiten, Menschenrechtsverletzungen, sozialen Benachteiligungen erlangt, als daß sie nicht genauestens den Erfahrungsschatz dieses Jahrhunderts auswerten müßte. Das ist eine ökumenische Aufgabe, der sich alle Kirchen stellen müssen. Insofern ist das, was innerhalb des BEFG geschah, von paradigmatischem Wert für die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen und ihrer sozialpolitischen Aufgaben.

Ein "Kapitel für sich" war die Präsidentenwahl 1969, wie es einer der Herausgeber, Günter Balders, treffend nennt. Dieses Kapitel ist auch in dem Buch auffallend, ist doch der Vf. ein "Wessie" und der Vorgang selbst, wie er zu Recht bemerkt, ein Beispiel dafür, daß die "Trennung von Staat und Kirche" nicht, wie es einem baptistischen Verständnis entsprechen würde, dem Wohl der Kirchen dient, sondern der Ausschaltung der Kirchen aus der Öffentlichkeit bei gleichzeitiger Einflußnahme des Staates auf Interna der Kirchen. In diesem Fall ging es darum, einen "progressiven" Präsidenten an die Spitze des BEFG zu bringen. Schlüsselrollen spielten dabei das prominenteste Mitglied der CDU innerhalb des BEFG, der Volkskammerabgeordnete Dr. Walter Riedel und der Prediger Herbert Kautz aus Halle, der dort Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Christliche Kreise" beim Bezirksausschuß Halle der Nationalen Front war. Der Coup gelang freilich nicht.

Zum literarischen Genre eines "Lesebuches" paßt es, daß kurze Einzelberichte vieler Autoren ­ zuallermeist Männer ­ von ihren Erfahrungen mit Stasi, Staatssekretariat für Kirchenfragen, und anderen staatlichen Stellen auf allen Ebenen geboten werden. Das gibt dem Buch Farbe, zeigt aber auch seine Grenzen. Immerhin sind die Berichte über Evangelisation, Kinder- und Jugendarbeit, Wehrdienst, Bau- und Grundstücksfragen, Diakonie, theologische Ausbildung, Öffentlichkeitsarbeit, einschließlich der Einfuhr von Büchern, sehr aufschlußreich, z. T. spannend. Amüsant ist es, was DDR-Behörden bei Einführung eines in Ost und West gebrauchten Gesangbuches (1978/1980) zu bemängeln hatten: "Und dennoch sind da Mauern zwischen Menschen"; "Hör das Klagen unsrer Brüder, die verfolgt sind und gefangen" mußten gestrichen werden. Wie dünnhäutig zeigte sich doch der Staat, der nicht müde wurde, vor Selbstbewußtsein zu strotzen und wie treffsicher fand er sich in den inkriminierten Textzeilen wieder!

Sowohl staatliche Stellen als auch mancher Autor des Buches heben die Bedeutung internationaler Verflechtungen (Baptistischer Weltbund, Europäisch-Baptistische Föderation, Konferenz Europäischer Kirchen) und die enge Zusammenarbeit der Kirchen innerhalb der "Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen" hervor. In der Tat war die ökumenische Verbundenheit der Kirchen in der DDR größer als im Westen. Diese gewachsene, vertrauensvolle Gemeinschaft ist, so klagen viele Freikirchler in der ehemaligen DDR, mit der Einheit zwar nicht abhanden gekommen, aber merklich abgekühlt. Mußte das sein?