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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

414–416

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Albrecht

Titel/Untertitel:

Vorlesung »Theologische Ethik«. Auf Grund des eigenhändigen Manuskripts hrsg. v. R. Schäfer.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XLVI, 224 S. m. 2 Faksimiles. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 99. Lw. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-019004-5.

Rezensent:

Alf Christophersen

Im Paragraphen 51 seiner Vorlesung »Theologische Ethik« betont Albrecht Ritschl: »Ohne die Uebung der Gewissenhaftigkeit verliert der Wille die ihm sittlich nothwendige Grenze seines Berufs, oder, sofern dieselbe äußere Motive für ihn behält, wird er zur lästigen Fessel oder er wird zur charakterlosen Liebhaberei.« Gewissenhaftigkeit im erstgenannten Sinne charakterisiert sowohl den Duktus der ethischen Erörterungen R.s selbst als auch die mustergültige Form der Edition seiner Vorlesung, die Rolf Schäfer nach nunmehr über 40 Jahren der Beschäftigung mit dem Text veröffentlicht. Schäfer konnte der Publikation ein Manuskript zu Grunde legen, das R. 1862/63 eigenhändig niederschrieb und bis in die 1870er Jahre immer wieder überarbeitete, so dass im Text frühere, durch die allmähliche Systembildung geprägte Werkphasen und eine ausgeformtere Gestalt ethischer Programmatik verbunden werden. Bereits 1992 hatte Helga Kuhlmann in ihrer Dissertation »Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls« eine Nachschrift ausgewertet, die von R.s Sohn Otto angefertigt worden war und zu der sich jetzt vielfältige inhaltliche Vergleichsmöglichkeiten ergeben. Die jetzt von Schäfer dokumentierte, fortgeschriebene Ethik-Vorlesung R.s führt mitten hinein in die Gestaltung des von 1870 bis 1874 erschienenen Hauptwerkes »Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung«. Diesem gegenüber »bietet die Ethikvorlesung ein Gesamtbild des Christentums sowohl in seiner religiösen als auch – und dies mit besonderem Nachdruck – in seiner sittlichen Eigenart« (XI). Deutlich, betont Schäfer, lasse sich an der Vorlesung erkennen, welche Impulse von R. für Sozialethik und Ökumenische Bewegung ausgegangen seien. Zumindest für die Untermauerung der letzten Behauptung dürfte der thesenfreudig gestimmte Deutungsaufwand nicht gering sein, erklärt R. doch etwa im Paragraphen 39 über »Das Verhältniß der evangelischen Kirche zu den andern Particularkirchen und zu den Secten«: »Allerdings ist aller Particularismus Ausdruck der Weltlichkeit, und der absichtliche kirchliche Particularismus ist das Gegentheil der dem Christenthum zustehenden Weltüberwindung. Also ist in jeder Particularkirche Pflicht, nach der Einigung der Kirche zu streben. Diesem Streben können wir freilich keinen direct erfolgreichen Ausdruck geben. Die katholischen Kirchen verschließen sich demselben entweder ganz, oder die römische wählt dazu die falschen Mittel der Intrigue und Gewalt.«
In einer instruktiven Einleitung, der ein Literaturverzeichnis beigefügt ist, verortet Schäfer die Ethik-Vorlesung unter anderem im Rahmen von R.s Gesamtwerk und hebt heraus, dass dieser zuerst 1858 über »Theologische Moral«, dann umbenannt in »Ethik«, gelesen hat. Anders als die unpublizierten Vorlesungen zur Dogmatik gehen diejenigen zur Ethik nicht von der Offenbarung aus, sondern orientieren sich an menschlichen Erfahrungen und Willensbewegungen, und zwar »einerseits im religiösen oder gottesdienstlichen Bereich, andererseits nach der sittlichen Seite hin auf dem Gebiet der Selbstdisziplin und des familiären, gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Lebens« (XIV).
Bei seiner Edition bezog sich Schäfer gezielt auf R.s Manuskriptgrundlage als Basis, nicht auf Hörernachschriften, und gab zudem der stärker durchgearbeiteten Fassung von 1862/63 Vorrang gegenüber einem Vorläufermanuskript von 1858/59. Der Apparat verzeichnet, ohne den Lesefluss zu stören, weitere spätere Vergleichsstellen aus Manuskripterweiterungen sowie Nachschriften von Karl Lange und Samuel Eck. Insgesamt las R. zwischen 1858 und 1887/88 19 Mal zum Ethik-Thema. Mit Hilfe einer Synopse gibt Schäfer einen Eindruck über die Entwicklung der Vorlesungsdisposition bis 1878. R. hatte seine Vorlesung mit insgesamt 66 Paragraphen in eine Einleitung und drei Hauptteile untergliedert: Auf »Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct« (§§ 9–39) und »Der Proceß des religiös-sittlichen Willens« (§§ 40–57) folgt »Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft« (§§ 58–66). Schäfer fügt in kurzen Beilagen drei im Vorlesungsverlauf von R. gestrichene Stücke, Passagen aus der Nachschrift Langes sowie Exzerpte aus der »Lehre vom Gewissen« (1869) von Wilhelm Gaß und aus Thomas von Aquins Summa theologiae an.
Der Blick auf den gegenwärtigen Stand der Theologiegeschichtsforschung nimmt immer noch ein starkes Erkenntnisgefälle wahr, wenn das 19. Jh. betrachtet wird: Den vergleichsweise differenziert erschlossenen ersten beiden Dritteln stehen im letzten Drittel weithin unbetretene Wissenschaftswelten gegenüber. Die Edition der Ethik-Vorlesung R.s trägt nun nicht unmaßgeblich zu einer Erweiterung unserer Kenntnisse über dieses Theologieterrain wie über die ohnehin bislang unterbewertete Geschichte der Ethik bei, und die Scharnierfunktion, die der erfasste Zeitraum als »Vermittlung« zwischen der ersten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des Folgejahrhunderts einnimmt, tritt deutlich hervor.