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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

399–402

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut, Schrader, Hans-Jürgen, u. Heinz Schilling [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hrsg. im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 298 S. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 42. Geb. EUR 49,00. ISBN 3-525-55826-0.

Rezensent:

Markus Matthias

Der Band, der auf eine Tagung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus zurückgeht, umfasst 15 Beiträge, geordnet nach den Themen 1. Anfänge und Hintergründe, 2. Kontakte und wechselseitige Einflüsse und 3. Ausblicke ins 18. Jahrhundert. Beiträger sind französische, schweizerische und deutsche Kir­chen-, Profan- und Literaturhistoriker. Das Buch dient dazu, die Pietismus- und die Jansenismus-Forschung zu verbinden, wobei der Quietismus als Brücke zwischen beiden religiösen Erscheinungen der Frühen Neuzeit dienen soll. Ferner will der Band die vierbändige Ge­schichte des Pietismus (Göttingen 1998–2004) um die beiden dort fehlenden französischen Strömungen ergänzen und zu neuen komparatistischen und transkonfessionellen Forschungen anregen (vgl. 7–8).
Françoise Hildesheimer (Richelieu et le Jansénisme, ou ce que l’attrition veut dire, 11–39) beschreibt das Verhältnis von Kardinal Richelieu und dem Jansenismus. Richelieus kirchlicher Aufstieg vollzog sich als Teil der Bewegung der »parti dévot«. Umso wichtiger ist es, den Kardinal-Staatsmann auch von seiner theologischen Gedankenwelt her zu verstehen. Richelieu entwickelt sich von dem typischen aristokratischen »dévot« mit seiner Theologie der Bekehrung und Selbstverleugnung zu einem theologischen Pragmatiker, der unterschiedliche Formen der Devotion gemäß der je eigenen Kondition gelten lässt. In seinem politischen Handeln führt dies zu einer politischen Ethik, die sich einerseits ohne Rücksicht auf göttliche Providenz entscheidet und andererseits darauf vertraut, dass Gott in diesen Entscheidungen providentiell am Werke ist. Für den Gegensatz zwischen Richelieu und dem Jansenismus als einem Typ des frühneuzeitlichen Augustinismus sind zum einen Richelieus ekklesiologische Texte wichtig, andererseits das in der beschriebenen Frömmigkeitshaltung angedeutete unterschiedliche Verständnis des Verhältnisses von freiem Willen, Tat (Gehorsam) und Gnade (Vorsehung). – Henk Hillenaar (L’Augustinisme de Fénelon face à l’Augustinisme des Jansenistes, 40–53) arbeitet die theologischen Differenzen zwischen Quietismus und Jansenismus anhand der unterschiedlichen Augustinusrezeption heraus. Beide Bewegungen haben teil an der seit ca. 1600 auch kirchlicherseits (Clemens VIII.) erneuerten Hochschätzung von Augustinus’ Schriften. Hintergrund sind die Wende vom Theozentrismus zum Anthropozentrismus in der cartesianischen Philosophie und die Geburt der modernen Individualität. Angesichts der erfahrenen Abwesenheit Gottes sucht Fénelon nicht über das cartesianische »Cogito« erste Evidenz, sondern psychologisch in dem Willen (»volo/amo«) und der praktischen Vernunft als dem Ort der Selbstverleugnung. Bei den Auseinandersetzungen zwischen 1700 und 1715 geht es um das Verhältnis der Freiheit Gottes zur Freiheit des Menschen. Der Quietist Fénelon muss die Freiheit des Menschen zum Zwecke der Tugend der Selbstverleugnung und die Kirche als göttliches Sprachrohr behaupten. Fénelon gehört damit hinein in die Ge­schichte des modernen Bewusstseins, wie es sich im »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz abzeichnet. – Die Fragestellung von Martin Brecht, ob »der mittelalterliche Pseudo-Augustinismus als gemeinsame Wurzel katholischer und evangelischer Frömmigkeit« bestimmt werden kann (54–64), ist anregend, wenn auch im Ergebnis negativ. Denn nicht der (radikale) Pietismus, sondern die Orthodoxie hat den Pseudo-Augustinismus rezipiert, und auch im Jansenismus kann Brecht nur marginale Spuren dieser mittelalterlichen Frömmigkeitsströmung beobachten.
Françoise Laplanche (De Gaussen à l’abbé Duguet: l’herméneutique piétiste entre philologie et mysticisme, 67–75) beschreibt zum einen die Rezeption des Exegeten Etienne Gaussen aus Saumur im hallischen Pietismus (J. J. Rambach) und zum anderen den Bezug der pietistischen Hermeneutik zu den jansenistischen Exegeten Duguet (und Asfeld) (Règles pour l’intelligence des Saintes Ecri­tures), beides vor dem Hintergrund einer zunehmend den historischen Literalsinn in den Blick nehmenden Bibelexegese. Bei Gaussen fanden die Hallenser – ihn missverstehend – einen wissenschaftlichen Vertreter einer »biblischen« Theologie im Sinne Speners und damit zugleich einer »mystischen« oder geistlichen Textauslegung. Mit der jansenistischen Hermeneutik sah man sich einig in der (angefochtenen) christologischen Interpretation der Bibel. – Jacques Le Brun (Echos en pays germaniques de la querelle du pur amour, 76–91) situiert die Auseinandersetzung zwischen Bousset und Fénelon (1697–1699), die mit der Verurteilung einiger Sätze des Erzbischofs von Cambrai endet, in einen längeren Diskurs, insbesondere im protestantischen Deutschland, um Mystik, Enthusiasmus und »uninteressierte« Gottesliebe (ca. 1650–1750). Dabei verlagert sich das Interesse von einer theologischen zu einer philosophischen und ethischen Fragestellung (Joh. Georg Pritius, G. Arnold, G. W. Leibniz, Joh. Wolfgang Jaeger). Auch Laplanche zieht eine Linie zur modernen Philosophie (Immanuel Kants). – Hanspeter Marti (Der Seelenfrieden der Stillen im Lande. Quietistische Mystik und radikaler Pietismus – das Beispiel Gottfried Arnolds, 92–105) geht der Rezeption des Quietismus nach. Arnold rezipiert mit Molinos zugleich einen ganzen Katalog von Kontemplationsmystik bzw. von karmelitischer Mystik. Für die Biographie Arnolds ist die These wichtig (101), dass diese spirituelle Bindung Gottfried Arnold die Rückkehr in das von Institutionen geprägte Leben erleichtert, ja ermöglicht habe. – Unter rezeptionsgeschichtlichem Aspekt betrachtet Klaus vom Orde den »Quietismus Miguel de Molinos bei Philipp Jakob Spener« (106–118). Auch hier ist das Ergebnis eher negativ. Spener interessiert sich nicht inhaltlich für den Quietismus, sondern sieht in ihm nur ein Signal für die innere Auflösung der Einheit des römischen Katholizismus und damit eine Bestärkung seiner Hoffnung besserer Zeiten für die (evangelische) Kirche. Vom Orde geht den Zusammenhängen um die Leipziger Disputation über den Quietismus des Molinos nach und beschreibt auch Speners Einfluss auf die Übersetzung des Molinos durch August Hermann Francke.
Einen komparatistischen Ansatz wagt Anne Lagny (119–135), indem sie mit »Francke, Madame Guyon, Pascal: drei Arten des ›écriture du moi‹« nebeneinanderstellt, nämlich den Lebenslauf von August Hermann Francke, die Lebensgeschichte der Madame Guyon und das Memorial von Pascal, und dabei von der Voraussetzung ausgeht, »daß die drei Ausprägungen des geistlichen Le­bens... sich in der Art niederschlagen müssen, wie sich der Autor im Text als Subjekt einer religiösen Erfahrung konstituiert« (12). Ihren Hauptakzent legt sie dabei auf die Analyse der Zeiterfahrung. Franckes Bekehrungsbericht wird beschrieben als Drama in der Zeitlichkeit des Subjekts (120). Schön arbeitet Lagny den Wechsel von einer äußerlichen Chronologie seines Lebens zur erlebten Zeit in der relativ kurzen Zeitspanne der Bekehrung in Lüneburg heraus. Dabei verbinden sich zeitliche Konzentration, räumliche Einengung und eine nicht mehr in Bildern und Topoi vorgetragene direkte Darstellung des Erlebens. Demgegenüber zeigt die Lebensbeschreibung der Madame Guyon »Ebbe und Flut des seelischen Lebens«. In den linearen Zeitablauf ihres Lebens brechen plötzlich und unvermittelt unzählige außergewöhnliche, aber letztlich undramatische, weil vom Ich beherrschte Ereignisse herein. Nicht das Ereignis, sondern die Deutung steht im Mittelpunkt der religiösen Erfahrung. Für Pascal zeigt Lagny, dass das Pascalsche Subjekt in seiner partikularen Dimension verschwindet und nur noch in der Zeit des Heilsgeschehens existiert. »Das menschliche Erfahren wird in die Form der Bibelgeschichte gegossen, die, von dem christlichen Menschen im Gedächtnis aufbewahrt, immer aktuell bleibt« (134). – Ernst Hinrichs (Jansenismus und Pietismus – Versuch eines Strukturvergleichs, 136–158) fragt nach vergleichbaren Strategien des Umgangs von Frankreich und Preußen mit den innerhalb ihrer Grenzen beheimateten religiösen Sonderströmungen. Hinrichs sieht Jansenismus und Pietismus als Faktoren in dem machtgeschichtlichen Prozess beider Staaten. Die im Einzelnen interessante Untersuchung, die insbesondere das Verhältnis des Jansenismus zur französischen Revolution in den Blick nimmt, vermag letztlich keine wirklichen Gemeinsamkeiten zu bieten, weil die Bewegungen selbst und auch die staatlichen Verhältnisse zu unterschiedlich sind. – Eine vergleichende Studie bietet auch Hellmut Thomke im Blick auf die »Kritik am Theaterspiel im Pietismus, Jansenismus und Quietismus« (159–171). Das Ergebnis verwundert angesichts der weltfeindlichen, auf strenge Moral, Disziplin und Devotion ausgerichteten Bewegungen nicht. Die Untersuchung enttäuscht insofern etwas, als sie die genauen Argumente und die genaue Zielgruppe der Kritik nicht klar analysiert, sondern weitgehend bekannte Zusammenfassungen über die religiöse Theaterfeindschaft bietet.
Von den letzten fünf Beiträgern zieht nur Hans-Jürgen Schrader eine transkonfessionelle und transkulturelle Linie, indem er die Beziehung zwischen »Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige[r] Literatur« nachzeichnet und ausführlich-pointiert der Rezeption der Schriften der Madame Guyon nachgeht (189–225).
Der Beitrag von Alfred Messerli widmet sich nur den »pietistische[n] Strömungen im katholischen Luzern in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (175–188). Die auf bekannte Tatbestände aufbauende Studie untersucht vor allem den Bibelerwerb und Bibelbesitz bei den evangelisch angehauchten Menschen im katholischen Kanton Luzern. Ob man bei festzustellender Bibellektüre von einem Pietismus reden kann, bleibt mir zweifelhaft. – In dem Rahmen ihrer umfassenden Studien zur Entstehung und Verbreitung der Kinderbibel seit dem Beginn des Buchdruckes stellt Ruth Bottigheimer die »[Eine] jansenistische Kinderbibel: ›L’Histoire du Vieux et de Nouveau Testament‹ (1670 et seq.) des Port-Royalisten Nicolas Fontaine« (226–238) vor. – Besonders interessant erscheint mir Wolfgang Magers Aufweis von »Jansenistische[n] Wurzeln der politischen Nationsbildung in Frankreich« (239–271). Nach Mager führt die jansenistische Ekklesiologie weit über die ältere Körperschaftslehre des Konziliarismus und eines Edmond Richer (1559–1631) hinaus. Hatte Letzterer schon die Pfarrpriester den Bischöfen als Repräsentanten der Kirche zur Seite gestellt und Ansätze eines funktionalen Amtsbegriffs entwickelt, demzufolge Ämter als Mandate der Gesamtkirche verstanden werden, so blieb er doch mit seinem dichotomischen »ordo imperantium et parentium« im Rahmen der alteuropäischen politischen Ordnung. Die jansenistische Ekklesiologie (Jean-Baptiste Le Sesne des Ménilles [1682–1770], Vivien de La Borde [1680–1748], Nicholas Le Gros [1675–1751]) entwickelt aus dem Widerstand gegen die Bulle Unigenitus (1713) die Idee des Klerus (Amtsträger) wie Laien umfassenden Gottesvolkes aller Gläubigen (peuple de Dieu), das aus sich heraus die Ämter vergibt (vgl. 2. Vatikanisches Konzil, LG II). Demnach wären dann sowohl die lehramtlichen wie jurisdiktionellen (z. B. Exkommunikation) Entscheidungen abhängig von der Zustimmung oder Akzeptanz der Laien respektive der »öffentlichen Meinung«. Insofern La Borde für das Gottesvolk den biblischen Ausdruck der »natio« verwendet und die Kirche als (heilige) Nation bezeichnet, nimmt die jansenistische Ekklesiolgie die drei Strukturelemente des politischen Nationenbegriffs vorweg, nämlich 1. das »ständeeinschmelzende, moderne Konzept der Nation als Zusammenschluß rechtsgleicher Staatsbürger zur Bürgernation«, 2. das Verständnis der Nation als »Verkörperung eines geschichtlichen Auftrags und höchster Werte« und 3. das Verständnis der Nation als »Träger des Staates und Garant der gewaltenteilig-repräsentativen Verfassungsordnung« (im Unterschied zur Identitätsrepräsentation der alten Konzilsidee) (271). – Christa Habrich (Johann Samuel Carl [1677–1757] und die Philadelphische Ärztegemeinschaft, 272–289) erzählt den Lebensweg von Carl und macht auf die immer wieder überraschenden Übergänge von radikalpietistischer (enthusiastischer) Religiosität, cartesianischer Naturbetrachtung und pietis­tisch-aufklärerischer Lehre von Heil und Heilung aufmerksam. – Ein Personenregister (290–298) beschließt diesen inhaltsreichen Band.