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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

397–399

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kaul, Oliver

Titel/Untertitel:

Undankbare Gäste. Abendmahlsverzicht und Abendmahlsausschluss in der Reichsstadt Ulm um 1600. Ein interkultureller Prozess.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2003. VIII, 358 S. m. Abb. gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, 202. Lw. EUR 45,00. ISBN 3-8053-3320-X.

Rezensent:

Renate Dürr

Im Gegensatz zu dem, was man – ausgehend von dem Begriff – eigentlich hätte annehmen können, vernachlässigte die Konfessionalisierungsforschung zunächst in vielen Fällen die Bedeutung von Religion und Frömmigkeit für den Alltag und die Lebenswelt der Menschen in der Frühen Neuzeit. Stattdessen lag der Fokus auf den sich gegenseitig verstärkenden Normierungsbemühungen von Seiten der Obrigkeiten wie der Geistlichkeit sowie auf der Frage, in welchem Ausmaß man von insgesamt parallelen Entwicklungen in allen drei Konfessionen auszugehen habe. Im Sinne von Akkulturationstheorien ging man dabei von zwei sich gegenüberstehenden »Kulturen« aus – einer Kultur der weltlichen und kirchlichen Elite auf der einen und einer Kultur der übrigen Gemeindeglieder auf der anderen Seite. Dabei interessierte jedoch in erster Linie, in welcher Weise und mit welchen Schwierigkeiten es den Eliten gelang, ihre Vorstellungen von Christentum und gesellschaftlicher Ordnung auch »unten« durchzusetzen. Die Erforschung der Religiosität in der Frühen Neuzeit wurde darum hauptsächlich aus der Perspektive von Disziplinierung und Normierung des Alltages begriffen, von Durchsetzungsbemühungen und Gegenwehr; kaum jedoch aus der jeweiligen Innensicht heraus.
Nicht zufällig bezieht darum Oliver Kaul in seiner Saarbrücker historischen Dissertation im letzten, abschließenden Absatz noch einmal Stellung zu diesen Forschungsansätzen und bricht eine Lanze für eine »Betrachtung von Herrschaftsprozessen und ritualisierten Handlungen im multivalenten gesellschaftlichen Spannungsfeld« (310). Und er meint damit die Überwindung strukturalistischer Ansätze solch binären Zuschnitts. Stattdessen ist es seine Absicht, den »Abendmahlsverzicht und den Abendmahlsausschluss in der Reichsstadt Ulm um 1600« als einen »interkulturellen Prozess« zu interpretieren. Allerdings erläutert er nur ansatzweise, was unter einem »interkulturellen Prozess« zu verstehen sei. Erst auf den letzten Seiten seines Schlusskapitels (304 ff.) erläutert K., dass er mit diesem Begriff eine zu starre »Oben«-»Unten«-Perspektive relativieren möchte. »Da sich beide Seiten heterogen darstellten, ist es angemessener, von einer Abfolge interkultureller Kommunikationen zu sprechen, die nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der angenommenen kulturellen Sphären stattfanden. Demgemäß lässt sich anhand des Phänomens der ›Abendmahlsverweigerung‹ … bestätigen, dass protestantische Kirchenzucht in einem Spannungsfeld verortet war, in dem die Vertreter der weltlichen Obrigkeit, der örtliche Klerus und die Mitglieder der Gemeinde einzeln oder gruppenweise interagierten und sich dabei gegenseitig beeinflussten.« (308) Zwar mag mit dieser Definition der Begriff »interkulturell« ein wenig überstrapaziert erscheinen, auch hält es die Rezensentin gerade für die Zeit um 1600 geboten, lutherische und reformierte Richtungen nicht vorschnell vereinheitlichend als »protestantisch« zu bezeichnen, doch hilft der hier propagierte Forschungsansatz, auch Gegenläufigkeiten und Wi­der­sprüche innerhalb des »Konfessionalisierungsprozesses« in den Blick zu nehmen. Methodisch bedeutet das für K., jeweils von bestimmten Fallbeispielen auszugehen und die strukturellen, theo­logischen, stadtpolitischen Rahmenbedingungen dann sozusagen erläuternd nachzuliefern. Damit erhalten wir ein sehr schön zu lesendes Buch, das fast vollkommen aus den Quellen erarbeitet ist und die behandelten Konflikte in allen nur denkbaren Dimensionen erörtert, das aber zugleich auf Grund der vielen Umwege und Einschübe zum Teil ermüdet.
Mit der Frage nach der Bedeutung des Abendmahls um 1600 hat sich K. ein Untersuchungsfeld ausgesucht, das wie kaum ein anderes identitätsstiftend war in dieser Zeit und zwar aus zweierlei Blick­richtungen: in Abgrenzung zu den theologischen Konzeptionen der anderer Konfessionen zum einen; als innergemeindliches Mittel der Vergemeinschaftung wie des Ausschlusses zum anderen. Dass sich K. beinahe ausschließlich mit der freiwilligen Enthaltung sowie dem erzwungenen Ausschluss vom Abendmahl befasst, liegt vermutlich an der Quellenlage, die stets die Konfliktsituation vor dem »Normalfall« privilegiert.
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Nach einer kurzen forschungsstrategischen Einleitung schildert K. den historischen Rahmen, nämlich die demographische, soziale, wirtschaftliche, politische und kirchliche Situation der Reichsstadt Ulm um 1600. Im anschließenden dritten Kapitel erläutert er die theologische Konzeption des Abendmahls im Luthertum. Mit großer Kenntnis setzt er diese sowohl gegen die entsprechenden katholischen als auch gegen die zwinglianischen und calvinistischen Vorstellungen ab und erläutert, wie unterschiedlich auch innerhalb der lutherischen Richtung die Interpretationen noch bis zur Durchsetzung der Konkordienformel waren. Mit Blick auf Ulm werden die Voraussetzungen für das entscheidende Dekret von 1614 erläutert, mit welchem der Stadtrat, eine Initiative der Geistlichkeit aufgreifend, diejenigen zu einem Verhör vor die »Religionsherren« lud, die sich über längere Zeit vom Abendmahl ferngehalten hatten. K. geht davon aus, dass dies in den nachfolgenden Jahrzehnten etwa 2–6 % der Ulmer Kommunikanten betroffen habe, zu Dreivierteln im Übrigen Männer (78).
Das eigentliche Hauptkapitel mit über 200 Seiten hat K. etwas harmlos »Facetten der Abendmahlsproblematik in Ulm« genannt. Verhandelt werden ausnahmslos Konfliktfälle, die vor dem Minis­terium und/oder dem Rat der Stadt verhandelt worden waren. Dabei gilt es zwischen denjenigen, die sich aus verschiedenen Gründen vom Abendmahl fernhielten, und jenen, die vom Abendmahl ausgeschlossen wurden, zu unterscheiden. Die unterschiedlichen Gründe diskutiert K. in sechs Unterkapiteln. Dabei veranschlagt er die Bedeutung sog. »Sektierische[r] Auffassungen« (89–121) vergleichsweise gering. Entscheidender seien da schon die »Probleme mit der Privatbeichte« (121–156), welche in Ulm in erster Linie ein Katechismusexamen war. Offenbar überforderte es nicht wenige Lutheraner, so dass sie lieber überhaupt nicht erst zur Anmeldung für das Abendmahl erschienen. Die verhandelten Fälle zeigen indessen, dass sich das Examen vorwiegend an »ledige Personen« wandte und seit 1626 sogar nur diejenigen von ihnen betraf, die nicht »Ehrlicher Leut khinder« waren (143).
In zwei unterschiedlichen Abschnitten erläutet K. anschließend, unter welchen Umständen sich Ulmer des Abendmahls enthalten konnten, wenn sie befürchteten, dass sie auf Grund ihres Lebens nicht »würdig« genug seien (156–189) oder insgesamt ein »ärgerliches und gottloses Leben« führten (189–221). Insgesamt zeigt sich hier ein tiefgreifendes Dilemma lutherischer Gemeindeglieder. Denn einerseits wurden die Gläubigen dazu aufgerufen, möglichst oft am Abendmahl teilzunehmen, andererseits warnte man sie vor dessen »unwürdigem Empfang«, der unweigerlich das Gericht nach sich ziehen würde (166). Ohne Sünde zu leben, war allerdings offenbar in bestimmten Berufszweigen fast unmöglich. Allein auf Grund der zahllosen Konflikte im Zusammenhang mit ihrer Arbeit enthielt sich nämlich fast die Hälfte der Metzgerzunftgenossen jahrelang des Abendmahls (204–214). Vor allem im Zusammenhang mit »Unzuchtsdelikten« kam es darüber hinaus auch in Ulm zu Ausschlüssen vom Abendmahl (221–257), die in dieser Reichsstadt der Rat verhängte, so dass der Geistlichkeit vor allem die Kirchenbuße und damit das Wiederaufnahmeritual oblag. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels, »Abendmahl und Tod« (257–288), zeigt schließlich noch einmal, dass die Enthaltung vom Abendmahl keineswegs eine Folge mangelnder Religiosität darstellte, sondern im Gegenteil eher der großen Bedeutung geschuldet war, die man ihm beimaß. So hatten sich um das Abendmahl herum zahllose alltagsmagische Praktiken etabliert, die K. als »katholische Anklänge« interpretiert (279), obwohl er doch mit all seinen Beispielen zeigen kann, dass er sich in einer ganz und gar lutherischen Welt bewegt. Unlogisch erscheint der Rezensentin aus dieser Perspektive der Titel der gesamten Arbeit. Denn mit »Undankbarkeit« hatte der Abendmahlsverzicht ja offenbar kaum etwas zu tun.
Insgesamt jedoch ist diese schön zu lesende, sorgfältig gearbeitete und vollkommen aus den Quellen geschöpfte Arbeit nicht nur den eigentlichen Spezialisten der Ulmer Stadtgeschichte oder der lutherischen Konfessionalisierung zu empfehlen, sondern darüber hinaus auch all denen, die sich für das frühneuzeitliche Stadtleben, für Alltag und Frömmigkeit, für den Zusammenhang von Konfessionalisierung und Bildung allgemein interessieren.