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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1041–1043

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Doering-Manteuffel, Anselm u. Joachim Mehlhausen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995 169 S. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, Beiträge zur Zeitgeschichte, 9. Kart. DM 44,­. ISBN 3-17-013928-2.

Rezensent:

Ursula Büttner

Es war zu erwarten, daß zum 50. Jahrestag des Attentats gegen Hitler am 20. Juli 1944 eine große Zahl von Publikationen auf den Markt kommen würde. Es war zu befürchten, daß darunter nur wenige weiterführende Studien sein würden. Beide Vermutungen haben sich erfüllt. Neben einigen Wiederauflagen wichtiger Arbeiten erschienen hauptsächlich Nachschlage- und Sammelwerke, die den bisherigen Forschungsstand zusammenfassen. Zu den Bänden, die darüber hinaus Neues bieten, gehört das hier zu besprechende Werk.

Der Sammelband enthält die Beiträge einer gemeinsamen Tagung von Theologen und Historikern in Tübingen im Juli 1994. Neues bietet er, weil er über Grenzen hinweggeht: zum einen durch den interdisziplinären Austausch zwischen den Vertretern verschiedener Fächer, zum anderen durch die Ausweitung des Blicks von Deutschland auf das europäische Ausland und sogar die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Frage nach dem christlichen Ethos als Motiv für den Kampf gegen den Nationalsozialismus, die als Leitgedanke den ganzen Band durchzieht, ist in den letzten Jahrzehnten stark in den Hintergrund geraten. In den ersten Arbeiten über den Widerstand gegen Hitler und sein Regime war die einsame Gewissensentscheidung derer betont worden, die sich zu diesem Weg entschlossen hatten. Wichtige, bis heute nicht überholte Arbeiten wurden vorgelegt, aber es war noch nicht die Zeit, die gesellschaftlichen Bedingungen des Widerstands zu untersuchen. Als Reaktion auf die Herausstellung der moralisch überragenden einzelnen Persönlichkeit wurde in einer zweiten Phase der Forschung der Arbeiterwiderstand in den Mittelpunkt gerückt, wurden widerständige Milieus, Resistenz und abweichendes Verhalten in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen untersucht, die politischen Einstellungen und Ziele der konservativen Widerstandskreise für das Deutschland nach Hitler einer kritischen Betrachtung unterzogen. Es wurde "unmodern", sich mit den Repräsentanten der bürgerlichen Elite im Widerstand, den Vertretern der militärischen und nationalkonservativen Opposition oder den christlichen Gegnern des NS-Regimes zu befassen und die spezifischen Antriebe ihres Handelns zu klären. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte als Veranstalterin der Tübinger Tagung den Mut hatte, wieder nach den ethischen Grundlagen für die Bereitschaft zum Widerstand zu fragen.

Der Widerstand in Deutschland hatte es in zweierlei Hinsicht besonders schwer, das zeigt die internationale Perspektive sehr deutlich: 1. Anders als in den besetzten Ländern mußten sich hier die Gegner des Nationalsozialismus gegen die eigene "Obrigkeit" wenden und konnten ihren Kampf nur schwer mit den nationalen Interessen ihres Volkes begründen. Auf Verständnis oder gar Zustimmung durften sie nicht rechnen; die Einsamkeit, in der sie ihren Entschluß fassen und durchhalten mußten, gehörte zu den schlimmsten Belastungen. Da die nationale und politische Begründung des Widerstands in Deutschland nicht sicher trug, wurde die religiöse Fundierung um so wichtiger, wie Klemens von Klemperer herausarbeitet. Viele von denen, die das NS-Regime stürzen wollten, waren überzeugte Christen oder wurden es jetzt. Die "Notlage, und zwar die persönliche Not ­ d. h. Verlassenheit ­ und die politische Not ­ d. h. Gewalt und Verbrechen ­ [wurde] zur Quelle der Frömmigkeit" (44) und des Widerstands. 2. konnte sich die Opposition in Deutschland dabei nicht auf eine "ethische Theorie des Widerstandsrechts" stützen (28), denn sie war, wie Joachim Mehlhausen in einem weit zurückreichenden Überblick zeigt, im deutschen Protestantismus nicht entwickelt worden. Wie schwer unter diesen Umständen die einsame Gewissensentscheidung für den Widerstand fallen mußte, wird in dem Beitrag von Doering-Manteuffel über das "Ethos des Attentäters", Claus Schenk Graf von Stauffenberg, deutlich.

Skandinavischen Lutheranern, vor allem dem schwedischen Theologen Gustaf Aulén und dem norwegischen Bischof Eivind Berggrav, gelang es während des Krieges dagegen, ausgehend von der notwendigen Bindung des Staates an das Recht, eine Widerstandsethik zu erarbeiten. So sehr Jens Holger Schjørring diese Leistung und auch den Einsatz der dänischen Protestanten für die Rettung der Juden würdigt, warnt er doch davor, den Widerstand gegen die nationalsozialistischen Okkupanten zu überschätzen. Einzelne Kirchenleute hatten Verbindungen zur Opposition in Deutschland, deren Existenz sonst kaum bekannt war. Vielfältige und enge Beziehungen gab es demgegenüber, wie Ger van Roon eingehend nachzeichnet, zwischen den protestantischen Kirchen in Holland und der Bekennenden Kirche in Deutschland. Ihr Kampf fand viel Beachtung und wurde für holländische Christen zum Vorbild und zu einer Antriebskraft. Wie diese damals neigt van Roon allerdings dazu, den partiellen Protest der Bekennenden Kirche als prinzipiellen Widerstand gegen die braunen Machthaber zu überschätzen.

Auch in England und den USA wurde der Kampf der Bekennenden Kirche aufmerksam und voller Hochachtung beobachtet, während die deutsche Opposition sonst auf skeptische Ablehnung stieß. Darüber können Christof Mauch und Jürgen Heideking Interessantes berichten. Indem Kirchenvertreter darauf bestanden, das deutsche Volk nicht unterschiedslos mit den Nationalsozialisten gleichzusetzen, sicherten sie Voraussetzungen für die Zusammenarbeit nach dem Krieg und die Westintegration des einen deutschen Teilstaats. Dieses Ergebnis wird von Martin Greschat in größerem Zusammenhang eindrucksvoll bestätigt. Christen im deutschen Widerstand hatten während der NS-Zeit die enge Verbindung zu kirchlichen Widerstandskreisen in den besetzten Ländern gesucht, und diese fühlten sich dadurch ermutigt, nach dem Kriege als erste für Versöhnung, Hilfe für das hungernde Deutschland und gleichberechtigte Mitarbeit von Deutschen in der Ökumene der protestantischen Kirchen und darüber hinaus in einer europäischen politischen Gemeinschaft einzutreten. Was für diesen Beitrag gilt, kann für den ganzen Band gesagt werden: Durch die Weite des Blicks über Länder- und traditionelle Epochengrenzen hinweg gelingt es, auf einem schon stark bearbeiteten Feld Neues zu entdecken.