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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

394–396

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Albrecht-Birkner, Veronika

Titel/Untertitel:

Francke in Glaucha – Kehrseiten eines Klischees (1692–1704).

Verlag:

Tübingen: Niemeyer (Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle) 2004. X, 148 S. m. Abb. gr.8° = Hallesche Forschungen, 15. Kart. EUR 26,00. ISBN 3-484-84015-3.

Rezensent:

Andres Straßberger

Mit ihrer ebenso zügig wie spannend zu lesenden Studie zu den Anfangsjahren von August Hermann Franckes Glauchaer Pfarramt legt die Vfn. eine äußerst gehaltvolle und an überraschenden Einsichten reiche Untersuchung vor, die ein komplett anderes Bild zeichnet, als es in der theologischen und sonstigen Pietismusforschung seit Gustav Kramers Francke-Biographie (1880/82) begegnet. Dies ist Ergebnis der methodischen Vorentscheidung der Vfn., als Kirchenhistorikerin sich ihrem Gegenstand nicht primär theologisch, sondern historisch zu nähern. Unter strikter Ausrichtung auf die Gesamtüberlieferung der Quellen (es wurden Bestände aus acht Archiven konsultiert!) rekonstruiert sie wichtige Ereignisse jener Zeit, für die sie Franckes Sicht (die nahezu allen Historiographen bislang als Leitperspektive diente; vgl. dagegen den Hinweis auf Kurt Alands Bedenken an einer zu »glatten« Sicht von Franckes Glauchaer Wirksamkeit; 8 f.) als nur eine von mehreren voraussetzt, um stattdessen nach der Sicht der Glauchaer Gemeinde als den von Franckes Reformeifer Betroffenen zu fragen. Auf diese Weise weitet sich die traditionell auf Pfarrer und Theologen fokussierte Kirchengeschichtsschreibung zu einer Sozialgeschichte des Christentums, in der die Ortsgemeinde nicht mehr nur als stilles Objekt pastoraler Bemühung, sondern als theologisch selbstbewusst agierendes Gegenüber zum Pfarrer erscheint, dessen Sicht der Dinge ein gleiches historiographisches Recht beanspruchen darf wie die kirchlichen Amtsträger.
Konkret geht es um die Kehrseiten jenes frommen Klischees, das Franckes Glauchaer Pfarramt samt der 1698 erfolgten Grundsteinlegung des Waisenhauses als kratzerfreie Erfolgsgeschichte des Pietismus beschrieben hat, um damit stillschweigend oder erklärtermaßen »Zeugnis vom lebendigen Gott« (so z. B. der Untertitel von Erich Beyreuthers Francke-Biographie [1958, 21961]) abzulegen, und zwar auf Kosten der Glauchaer Gemeinde. Denn sie diente dabei als rabenschwarze Hintergrundfolie zur theologischen Legitimation der pietistischen Reformen und als Ausweis ihres vermeintlichen (nicht selten dem göttlichen Handeln zugeschriebenen) Erfolgs, der sich bei genauerem Hinsehen als Ergebnis zweck­rationalen Handelns und interpretatorischer Konstruktion seines Protagonisten offenbart. Überzeugend destruiert daher die Vfn. Franckes Sicht der Dinge auf die »bösen« und »halsstarrigen« Glauchaer bzw. ihre letztendliche »Bekehrung« als Ergebnis eines noch in der Selbstfindung begriffenen, sich erst schrittweise erprobenden pietistischen Gemeindeideals, das sich in kämpferische Opposition zur »orthodox-volkskirchlichen« Norm stellt und diese als widerchristlich und heillos verurteilt. Francke erscheint dabei – durchaus unsympathisch – als pastoraler Tyrann, der seine pietistischen Vorstellungen und Vorhaben absolut setzte und seiner Gemeinde rücksichtslos aufoktroyierte. Da die Glauchaer sich ihm nicht komplett und bedingungslos unterwarfen, war Streit vorprogrammiert, und es ist erstaunlich zu lesen, mit welchem Mut sich Einzelne oder ganze Gemeindegruppen (unbesorgt der zu erwartenden und tatsächlich erfolgten Konsequenzen, die von scharfen Verhören über Abendmahlsentzug bis hin zu stillem Begräbnis reichten) dem Pfarrer entgegenstellten, um ihrer Auffassung von pfarramtlicher Pflicht und gelebtem Glauben Gehör zu verschaffen. Zu keinem Zeitpunkt nahm er die Kritikpunkte der Gemeinde ernst, sondern wies sie stets als satanisch ab. Indem er sich aber regelmäßig und kalkuliert den für solche Konflikte vorgeschriebenen Rechtswegen entzog und gezielt persönlichen Einfluss an politisch entscheidender Stelle geltend zu machen versuchte (Einfluss, über den seine Glauchaer Kritiker nicht verfügten), erscheinen die Auseinandersetzungen allzu oft als Kampf zweier ungleicher Kombattanten. So gesehen lässt sich die Geschichte von Franckes Glauchaer Pfarramt auch als Geschichte der schrittweisen Entmündigung einer Gemeinde lesen, die man jedem allzu reformeifrigen Pfarrer zur Lektüre empfehlen möchte.
Zwar ist die Rekonstruktion und Analyse der behandelten Streitigkeiten unter der bezeichneten Perspektive mehr als lehrreich und in wünschenswerter Komplexität bearbeitet. Gleichwohl hätte der Rezensent sich doch gelegentliche Andeutungen der Vfn. (vor allem angesichts ihrer intimen Kenntnis der Materie) über weiterreichende Implikationen des erschlossenen Materials ge­wünscht, wie z. B. über die Einwirkung von Franckes rigoroser Beichtstuhlpraxis auf Johann Caspar Schade oder über den aufklärerischen Francke, der 1699 in Glaucha sowohl den Taufexorzismus als auch die Messgewänder abschaffte (60.67–71). Ein Thema eigener Art, das ebenso detaillierter Erkundung erst noch harrt, wären ferner die Interessen der politischen Entscheidungsträger in Berlin gewesen, denen es (warum auch immer) opportun erschien, stets für Franckes Sichtweise zu optieren und damit den Gang der Dinge in der bekannten Weise zu beeinflussen. Außerdem hätte es das historiographische Anliegen der Vfn. meines Erachtens noch schärfer profiliert, wenn sie die Sicht Franckes nicht ausschließlich aus den archivalischen Quellen rekonstruiert, sondern dafür auch seine für die Etablierung der pietistischen Historiographie und die Konstruktion der pietistischen Identität so außerordentlich folgenreichen Druckschriften (vgl. deren Erwähnungen auf S. 4 in Anm. 5; 74 in Anm. 306), vielleicht in einem eigenen Teilkapitel, analysiert hätte. Doch sind das Rezensentenwünsche, die der Studie selbst keinen Eintrag tun.
Zweifellos hat die Vfn. mit ihrer Untersuchung einen wegweisenden, unverzichtbaren Baustein zu einer jeden zukünftigen, historisch orientierten Francke-Biographie vorgelegt. Zugleich hat sie einen grundlegenden Beitrag zum nach wie vor ungeklärten Verhältnis von historischer und systematischer Methode in der Theologie im Allgemeinen (vgl. Albrecht Beutel in: ThLZ 129 [2004], 956) sowie der Pietismusforschung im Besonderen (vgl. Martin Gierl: Im Netz der Theologen: die Wiedergeburt der Geschichte findet nicht statt. Von Pietismusforschung, protestantischer Identität und historischer Ethik 2003/04. In: Zeitschrift für historische Forschung 32 [2005], 463–487) geleistet. Dass die Vfn. für ihre eigenen theologischen Beurteilungen den Maßstab lutherischer Theologie herangezogen hat (vgl. beispielsweise den Schlusssatz, 89) bzw. dem Standpunkt der orthodox-lutherischen Gegner Franckes sichtbare Sympathien entgegenbringt (vgl. 101–103), lässt ihre Be­schäftigung mit dem Thema zwar durchaus als Gegenstand theologisch negativer Identitätsstiftung erscheinen (und insofern als Gegenstück zum historiographischen Interesse eines Kramer oder Beyreuther), mindert deswegen aber keineswegs den historischen Erkenntniswert der Ausführungen. Die von ihr nicht explizit gestellte, gleichwohl mitlaufende Frage, ob das pietistische Ge­meindeideal oder das orthodox-volkskirchliche im historischen Recht war, kann auf der Grundlage der gemachten Ausführungen aber gerade nicht ausschließlich historisch entschieden werden. Denn beide Ideale stellen bis heute Optionen kirchlicher Praxis dar, für die sich theologische Argumente Pro und Kontra finden lassen. Ohne historisch-kritische Untersuchungen wie die vorliegende, die sich den Kehrseiten der theologisch identitätsstiftenden Klischees zuwenden, wird die Diskussion über das historische Recht des Pietismus aber ebenso wenig sachgemäß zu führen sein wie über seine fortgesetzte kirchliche Bedeutung.