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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

389–391

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Fidora, Alexander, u. Matthias Lutz-Bachmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erfahrung und Beweis. Die Wissenschaften von der Natur im 13. und 14. Jahrhundert. Experience and Demonstration. The Sci­ences of Nature in the 13th and 14th Centuries. In Verbindung mit D. Werner, P. Antolic u. P. Hoffmann.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2007. VIII, 302 S. gr.8° = Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel, 14. Geb. EUR 64,80. ISBN 978-3-05-004249-7.

Rezensent:

Peter Schulthess

Reicht die Geschichte der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft bis ins 13. Jh. zurück? Einige Historiker wollten in der Naturphilosophie der Spätscholastik die Wurzeln oder den Auftakt der neuen (Natur)Wissenschaft im 17. Jh. sehen, andere bloß maskierte Theologie, wieder andere eine »natural philosophy without nature« (John Murdoch) oder einen »empiricism without observation« (Grant). In seiner damals bahnbrechenden Studie Robert Grosseteste and the origins of experimental Science 1100–1700 (Oxford 1953) vertrat z. B. Alistair Crombie die These, dass die moderne, Empirie und Mathematik vereinende naturwissenschaftliche Methode ihren Anfang mindestens der qualitativen Struktur nach bei Robert Grosseteste, Roger Bacon und Johannes Peckham nahm: Diese Autoren hätten Experiment und Mathematik vereint. Die vorliegenden Studien legen jedoch eine differenzierte Korrektur dieses Bildes nahe: Grundlagen für die neuzeitliche Naturwissenschaft wurden weit eher institutionell als inhaltlich gelegt. Dazu gehört der Versuch, Akzeptanz (auch unter Theologen) für die griechische, römische, jüdische, und islamische Überlieferung zu schaffen, die Autonomie der wissenschaftlichen Suche und Methode zu sichern, die Themen der Naturphilosophie in der wissenschaftlich-rationalen Suche, Organisation und permanenten Lehre an der Universität zu verankern sowie neue Wissenschaften im Curriculum der Universität zu implantieren, z. B. die Perspectiva bzw. Optik.
Der Band wird mit Beiträgen zu »Voraussetzungen in der Antike« eröffnet. Wolfgang Detels Beitrag »Formale Syllogistik und Erfahrung« diskutiert den Erweis der Ungültigkeit von Syllogismen mittels Gegenmodellen bei Aristoteles und zeigt, dass die Struktur und Form der Syllogismen im Sinne einer de re-Modalität interpretiert werden muss, wodurch Aristoteles dann sagen könne, dass die Logik in der Natur fundiert sei. Miira Tuominen erörtert die spätantiken Kommentare (insbesondere des Alexander von Aphrodisias und Johannes Philoponos) zur Frage der Analytica posteriora: Wie kommen wir zu den Prinzipien?
Den Teil »Die Anfänge der Diskussion: Grosseteste und Bacon« eröffnet Andreas Speer. Er sieht den Beitrag des Mittelalters zur Naturphilosophie darin, dass die scientia naturalis autonom und prinzipientheoretisch sowie methodologisch fundiert wird. Diese Entwicklung geschehe allerdings nicht durch eine einfache Ablösung des platonischen Paradigmas durch das aristotelische, sondern durch Verknüpfung wesentlicher Motive beider Traditionen und Rezeption der arabischen Quellen bezüglich Astronomie und Medizin. Insofern sei die Naturphilosophie auch kein kontingentes Ereignis im Zuge der Übersetzungstätigkeit der aristotelischen Naturphilosophie. Jeremiah Hackett korrigiert Crombies allzu optimistische Sicht auf Roger Bacon: Er sei kein Vorläufer der Nuova Scienza des 17. Jh.s, aber immerhin dafür verantwortlich, dass die Optik ins Curriculum aufgenommen worden sei. Grosseteste und seinen Nachfolgern schreibt er das Verdienst zu, der Naturphilosophie einen Platz in der Wissenschaft der Universität gesichert zu haben – unabhängig von der Theologie.
Den Teil »Albert und die naturkundliche Forschung im 13. Jahrhundert« eröffnet Leen Spruit. Die wissenschaftliche Methodologie in den naturphilosophischen Schriften Alberts stelle keine originale und unabhängige Naturphilosophie dar. Alberts Beobachtungen seien nur qualitativ, keineswegs quantitativ oder statistisch; trotz alles empirischen Interesses sei er kein autonomer Beobachter oder Experimentator, sondern ein »bookish scientist«, der sein empirisches Material eher als aus der Natur aus den Büchern und Erfahrungen anderer nahm. Dorothée Werner erörtert Alberts Problematisierung der aristotelischen These, dass die Seelenlehre zur Naturphilosophie gehöre. Pietro Rossi diskutiert fünf Kommentare von Autoren (u. a. Petrus Hispanus und Albertus Magnus) aus dem 13. Jh. zum Methodenbuch der Aristotelischen Lehre von den Lebewesen, De partibus animalium (Buch I). Michael Scotus übersetzte dieses zusammen mit De historia animalium und De generatione animalium um 1220 in seinem De animalibus. Die Kommentatoren dieses Schriftenkonvoluts fragten, ob es sich bei den in diesen Texten behandelten Themen um eine Wissenschaft handle: Gibt es einen univoken Begriff der generatio? Ist die darin angewendete Methode wissenschaftlich? Wie findet man Definitionen, wenn nicht durch dichotomische Division? Th. W. Köhler versucht im anthropologischen Untersuchungsbereich – im 13. Jh. begann man den Menschen als Natur in der Natur, als res naturalis zu sehen – die These eines Empiricism without Observation von Grant zu widerlegen. Dazu untersucht er die Funktionen der Berufung auf Erfahrung in der Wissenschaft: illustrative (zu Beispielzwe­cken), bestätigende oder widerlegende, d. i. verifizierende oder falsifizierende, oder investigative (wenn man einen Sachverhalt festzustellen versucht, von dem man ohne Erfahrung keine Kenntnis hat). Alle würden in Anspruch genommen, so diagnozistiert Köhler.
Die Thomas-Studien des Teiles »Erfahrung und Beweis: von Thomas bis Scotus« eröffnet Matthias Lutz-Bachmann mit der Frage: Haben Tiere Erfahrungswissen? Diese Frage bespricht er anhand der Kritik des Thomas im Metaphysikkommentar an Aris­toteles’ Erfahrungsbegriff, der den Menschen nur unzulänglich vom Tier abzugrenzen gestatte. Thomas unterscheide dafür experimentum, was einen methodischen Grundzug des Erfahrenden beinhalte, von experientia. Menschliche Erfahrung werde so notwendig auf ratio zurückbezogen. Peter Hoffmann untersucht die Bestimmung der Wissenschaft bei Thomas von Aquin, Ermenogildo Bideso das Problem der Bewegung in dessen Physikkommentar. Alexander Fidora erörtert die Entwicklung der aristotelischen Theorie der Subalternation der Wissenschaften im 13. Jh. und zeigt auf, dass die aristotelischen Überlegungen in einer Reflexion über Erfahrung als genuine Erkenntnisquelle münden. Steven Marrone diskutiert die Frage, ob Duns dicht daran war, der Naturphilosophie eine bloß wahrscheinliche Erkenntnisweise zuzuordnen und damit das aristotelische Paradigma zu verlassen.
Der Schlussteil »Erfahrung und Wissenschaft im 14. Jh.« wird eröffnet von Gerhard Leibold, der die Geschichte der Naturwissenschaft unter dem Aspekt der Überwindung des Aristotelismus diskutiert. Gerhard Krieger nimmt sich die Impetusphysik vor und versucht ihr methodologisches Selbstverständnis in Buridans Metaphysik-Kommentar aufzuzeigen. Dabei weist er eine überraschende Parallele zwischen Buridan und Nikolaus Cusanus auf: Beide würden die Praxis des menschlichen Wissens als eine Konsequenz der menschlichen Freiheit verstehen. Dies betreffe insbesondere auch die Konventionalität der Konzepte und die Maßeinheiten. Als eines der Kennzeichen neuzeitlicher Naturwissenschaft gilt die Kritik der Finalursachen. Nur wenige wissen, dass diese Kritik (z. B. durch Johannes Buridan) durchaus ein Aspekt der Spätscholastik ist. Cecilia Trifogli zeigt in ihrem Beitrag, wie Thomas Wylton die finalen Ursachen noch verteidigt. Edith Sylla vergleicht die Kommentare zur Analytica posteriora von Robert Grosseteste mit denjenigen von Walter Burley mit Blick auf das besonders instruktive Beispiel der (mathematischen) Astronomie. Sie korrigiert in den von Crombie diskutierten Beispielen zu Burley und Grosseteste die Auffassung Crombies, wonach Grosseteste den Anstoss zur empirischen Methode gegeben habe. Dies sei, nach Averroes, eher Burley gewesen.
Diese auf eine Konferenz in Frankfurt zurückgehende, 300 Seiten umfassende Sammlung von Beiträgen liefert eine gewichtige, sorgfältige Korrektur von vielen Vorurteilen über die Naturphilosophie des 13. und 14. Jh.s. Sie ist daher von der Forschung zu begrüßen. Umso bedauerlicher ist, dass sie weder ein Register moderner Autoren enthält noch ein Begriffsregister oder eine Gesamtbibliographie zur Thematik.