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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1039–1041

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Abrath, Gottfried

Titel/Untertitel:

Subjekt und Milieu im NS-Staat. Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse 1936–1939. Analyse und Dokumentation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 459 S., 26 Abb. gr.8° = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 21. geb. DM 108,­. ISBN 3-525-55721-3.

Rezensent:

Jochen-Christoph Kaiser

Der Vf., Enkel des Elberfelder BK-Pfarrers Hermann Klugkist Hesse und selbst evangelischer Theologe und Historiker, versucht mit der vorliegenden Wuppertaler Dissertation eine Lebens- und Werkdeutung seines Großvaters, die sich für die Zeit des Dritten Reiches auf Tagebuchaufzeichnungen stützt, und die im zweiten Teil auszugsweise abgedruckt werden. Hesse spielte in der Zeit des sogenannten Kirchenkampfes eine wichtige Rolle in der Bekennenden Kirche des Rheinlands und im Wuppertal, nicht zuletzt durch die langjährige Herausgabe des Blattes Unter dem Wort bis zum Verbot 1936/37. Die persönlich gehaltenen, handschriftlichen Aufzeichnungen spiegeln Ausschnitte des umstrittenen Verhältnisses von Staat und Kirche aus der Perspektive eines überzeugten ’Dahlemiten’, eine Sicht, die auch der Herausgeber weitgehend ­ und manchmal allzu unkritisch ­ übernimmt.

Hesse (1884-1949) stammte aus einer ostfriesischen Pfarrerfamilie und gehört zu jenen Pastorensöhnen, die geprägt vom Einfluß des Elternhauses wie selbstverständlich den gleichen Lebensberuf wie der Vater ergriffen. Abrath zeichnet das Profil eines tiefgläubigen, etwas weltabgewandten jungen Studenten und Pfarrers, der offensichtlich lange brauchte, um sich in seiner Profession zurechtzufinden; jedenfalls deutet der fünfmalige Wechsel der Pfarrstelle in den Jahren zwischen 1909 und 1921 darauf hin, ohne daß der Vf. dies eigens problematisiert. Erst dann erhielt Hesse eine Pfarrstelle in Elberfeld, auf der er bis zu seinem Tode blieb.

Politisch konservativ, wenngleich zurückhaltend habe sich Hesse mit gewisser Zwangsläufigkeit nach dem Scheitern der Konzeptions Stoeckers, den deutschen Protestantismus im Sinne eines christlichen Gesellschaftsbildes zu politisieren, einer "immer stärkeren Verinnerlichung des Glaubens" zugewandt und sich vom politischen Tagesgeschehen ganz bewußt zurückgehalten (51). Dies hinderte den erwecklich-reformiert eingestellten Dorfpastor aber nicht, im Ersten Weltkrieg für den Sieg der deutschen Waffen zu beten und die Feinde Deutschlands öffentlich zu attackieren. Das Ende des Krieges, das auch er wohl als Katastrophe empfand, habe ihn endgültig zum Rückzug aus der politischen Szenerie bewogen: Er äußerte sich in den erhaltenen Predigten, Briefen und Schriften weder für noch gegen die Republik und verlegte sich in seiner regen, häufig auf Personen und Ereignisse der Erweckungs- und Frömmigskeitsgeschichte bezogenen historischen Publikationstätigkeit in erster Linie auf eine Zivilisationskritik, die sich gegen Kapitalismus und Materialismus richtete und vor den Folgen der modernen Geisteskultur seiner Zeit für Christentum und Kirche warnte.

Dem Nationalsozialismus hatte dieser klassische Typus eines tiefreligiösen rheinischen Pfarrers reformierter Prägung wenig entgegenzusetzen; von seiner inneren Haltung aus führte wie bei der Mehrheit seiner Kollegen kein Weg zu politischem Widerspruch oder gar Opposition gegen das heraufziehende Dritte Reich. ­ Leider bleibt die Entwicklung des ’Kirchenkampfes’ im Wuppertal in seiner frühen Phase nahezu ganz ausgespart, was damit zu tun haben mag, daß die Tagebücher erst mit dem Jahr 1936 einsetzen. So kann der Leser mit Hilfe der Rückgriffe Abraths auf andere hinterlassene Manuskripte und Briefe sowie auf die Sekundärliteratur allenfalls ahnen, welchen Einfluß Hesse hier ausgeübt haben muß.

Es folgt dann die Schilderung der mannigfachen Kämpfe um die Kirchenausschüsse auf Reichs-, Provinz- und Gemeindeebene, die Hesse ganz auf der Seite des die Ausschüsse radikal ablehnenden Flügels der Bekennenden Kirche zeigt, was ihm heftige Konflikte auch mit jenen rheinischen Amtsbrüdern wie etwa Joachim Beckmann einbrachte, die für einen eher ausgleichenden Kurs votierten. Abrath übernimmt die These van Nordens, die Bereitschaft zur vorsichtigen Kooperation mit den Ausschüssen habe unter Verzicht auf die Einbeziehung theologischer Kategorien zur Inanspruchnahme staatlicher Rechtshilfe geführt und jeden kirchlichen ’Teilwiderstand’ in den betroffenen Regionen praktisch "eliminiert". Das Ziel der Befürworter sei die "Bewahrung volkskirchlicher Funktionen" in bestimmten Nischen unter Ausschaltung eines theologisch legitimierten ’kirchenpolitischen Gestaltungswillens’ gewesen (97 f.).

Wie sich dieser Gestaltungswille innerhalb des inzwischen zum ’Totalstaal’ gewordenen NS-Regimes denn praktisch hätte auswirken können und sollen, erläutert der Vf. jedoch nicht. Obschon er in Anlehnung an die Tagebücher immer wieder einräumen muß, daß sich der ’Widerstandsbegriff’ Hesses und seiner Gesinnungsfreunde allein "als Aktionsform kirchenpolitischer Auseinandersetzung" zeigte (241) und allgemeinpolitische und gesellschaftliche Dimensionen weitgehend ausblendete, kommt Abrath am Ende zu der erstaunlichen Behauptung, daß die Bekennende Kirche selbst noch "in den Jahren 1937/38 sehr wohl und ohne ein erheblich höheres Risiko die Opposition eines nicht vorbehaltlich zustimmenden bürgerlichen Lagers [hätte] vertreten können. Ein mutigerer Protest gegen die Verfolgung der Juden wäre sowohl in ihrem Bewußtseinsstand als auch in Folge ihres Selbstverständnisses zu erwarten gewesen" (242).

Diese schon in der älteren Literatur (Gerlach u. a.) häufig vertretene These muß freilich anders reflektiert und begründet werden, als Abrath es tut: Das Scheitern der BK in dieser Frage lediglich unter der Formel eines "gespaltenen Denkens ’im Gegenüber von Politik und Theologie"’ zu deuten, diese aber nicht weiter auszuführen, erinnert an Kategorien der Wünschbarkeit kirchlich-geschichtlicher Entwicklungen (Nipperdey), von denen sich der Vf. möglicherweise hat leiten lassen.

Der Band besteht aus zwei ungleichgewichtigen Teilen: Zunächst gibt Abrath die Biographie Hesses wieder (11-243), um dann Auszüge aus den 12 erhaltenen Tagebuchbänden bezogen auf die Jahre 1936-1939 abzudrucken (244-384), die er zuvor schon für seine Darstellung der Periode 1936-1939 ausführlich heranzog.

Problematisch erscheint dieser methodische Ansatz, auf den abschließend einzugehen ist, vor allem auf dem Hintergrund der einleitenden theoretischen Ausführungen über die historische Gattung ’Tagebuch’ und seine Verwertbarkeit für die Beschreibung bestimmter religiöser ’Milieus’. Im Gegensatz zur herkömmlichen Forschung, die für Tagebücher kein eigenständiges Analysekonzept entwickelt habe, und die darin enthaltenen Informationen meist nach dem ’Steinbruchprinzip’ auswerte,(1) will Abrath die Tagebücher seines Großvaters als geschlossenen Quellenkorpus, ohne Vergleich mit anderen Aufzeichnungen dieser Art auswerten.

Dabei geht es ihm primär um die "Deutung erfahrenen Geschehens im Tagebuch" und nicht um dieses Geschehen selbst: "Erst im Gegenüber zu der persönlichen Sicht der Dinge im Tagebuch interessiert die historische Wahrheit" [sic]. Nur auf diese Weise sei die bereits im Titel der Arbeit genannte "Wechselwirkung von Subjekt und Milieu" zu beobachten (15). Deshalb möchte er auch keine Biographie Hesses präsentieren, sondern allein die Quelle sprechen lassen. Abgesehen davon, daß er dies im folgenden gar nicht tut, denn die Tagebücher setzen ja erst 1936 ein, erscheint ein solches Verfahren ohne vorangehende intensivere Reflexion über die dabei zwangsläufig zutage tretenden Interpretationsschwierigkeiten problematisch, denn zumindest idealtypisch wird Kirchengeschichte dann allein aus der Binnenperspektive eines Beteiligten rekonstruiert. Das Geschichte nicht darin aufgeht, was ihre einzelnen Akteure denken und intendieren, sondern sich in größeren Kontexten entfaltet, ist jedoch eine triviale Erkenntnis, um die schließlich auch Abrath nicht herumkommt; denn in der praktischen Durchführung bemüht er sich durchaus, die Erkenntnisse der Tagebücher und anderen Aufzeichnungen Hesses historisch zu verorten.

Freilich fällt dabei immer wieder die eigenwillige und kaum in die neuere Methodenreflexion eingebettete Vorgehensweise auf: So benutzt er den Milieubegriff ohne jeden Verweis auf die einschlägige Milieuforschung und deshalb auch ohne kritische Vorüberlegung, ob und wie die klassische Definition von Lepsius für die Teilsegmente des deutschen Protestantismus überhaupt zutrifft. Daß am Ende die rheinische Wuppertaler BK-Umwelt als das Kirchenkampf-’Milieu’ schlechthin erscheint, ist von daher nur folgerichtig, blendet aber den gewiß breiteren Bereich protestantischer Wirklichkeit im Dritten Reich aus. ­ Getreu seinem Anspruch, die Tagebücher aus sich selbst heraus zu interpretieren, hat der Vf. zahlreiche statistische Graphiken in seinen Text aufgenommen, mit denen das kommunikative Geflecht, in dem sich Hesse bewegte, anschaulich gemacht werden soll. Dieses an sich interessante methodische Vorgehen sagt jedoch über Inhalte und Rezeption wenig aus und demonstriert höchstens den Aktionsradius des Elberfelder Pfarrers und die von ihm angeschnittenen Themenschwerpunkte.

Alles in allem verharrt die Arbeit auf der Ebene einer Mikrostudie der BK-nahen kirchlichen Szenerie in Wuppertal mit sicherlich vielen richtigen und wichtigen Einsichten in das Denken und Handeln einiger ihrer Akteure. Die skizzierten methodischen Schwächen, die Konzentration auf die Person Hesse und seine ’Sicht der Dinge’ und schließlich die vergleichsweise unkritische Übernahme der Positionen von Dahlem ohne Auseinandersetzung mit der davon abweichenden neueren Fachforschung läßt am Ende doch fragen, was diese Untersuchung an neuen und weiterführenden Erkenntnissen zur Geschichte des ’Kirchenkampfes’ auszutragen vermag.(2)

Fussnoten:

(1) S. dagegen den Beitrag von Peter Hüttenberger, "Tagebücher", in: Bernd A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht [Hrsg], Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt Neuzeit, Paderborn et al. 1992, 27-43.
(2) Irritierend ist auch der Umgang mit jenen Urteilen der Forschung, die der Vf. nicht teilt; vgl. dazu die m. E. weit überzogene Kritik an F. W. Graf und K. Scholder im Zusammenhang mit der Deutung der Rolle Karl Barths (Graf) und der "politischen Theologie" der Deutschen Christen (Scholder), 160, Anm. 28 f.