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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1037 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Santos Noya, Manuel

Titel/Untertitel:

Die Sünden- und Gnadenlehre des Gregor von Rimini.

Verlag:

Frankfurt/M.-Bern-New York-Paris: Lang, 1990. XIII, 357 S. 8° = Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie, 388. Kart. DM 38,­. ISBN.

Rezensent:

Helmar Junghans

Die Stärke dieser Tübinger Dissertation von 1989 liegt in der sorgfältigen Darbietung der Gedankenführung Gregors mit Hilfe einer das Verstehen fördernden Gliederung und einer klaren Diktion. Der Vf. stellt die zentrale Bedeutung der Liebe zu Gott für Gregors Bestimmung der moralischen Gutheit und der Sünde heraus und geht auf die Interpretation der freien Allmacht Gottes ein. Er zeigt, wie Gregors Überzeugung, daß die Ich-Bezogenheit des Menschen ihn zur Gottesliebe unfähig macht, ein "auxilium speciale Dei" als notwendig erscheinen läßt, das Gott aus reiner Gnade gewährt. Zugleich konstatiert er bei Gregor eine Gleichsetzung der Erbsünde mit der concupiscentia.

Soweit der Vf. die von Gregor geführte Diskussion wiedergibt, arbeitet der die Streitpunkte zwischen Gregor und seinen Gegnern scharf heraus. Er bestimmt Gregors theologiegeschichtlichen Ort als Reaktion auf eine Spätscholastik, die die "moderne" Auffassung vom Individuum ­ wie sie die Renaissance förderte ­ aufgenommen hat. Der Vf. beschreibt Gregors Intention beim Umgang mit Augustinus so, daß er nicht eine bestimmte Kirchenvätertheologie erneuern, sondern diesen Kirchenvater zum rechten Verstehen der Heiligen Schrift heranziehen wollte (121). Diese Zielsetzung stimmt aber genau mit der Kirchenväterrezeption der Bibelhumanisten überein.

So überrascht es, daß der Vf. nicht die Forschung von Rudolph Arbesmann aufgenommen hat, wonach sich in der ersten Hälfte des 14. Jh.s unter den Augustinereremiten ­ also während Gregor zu diesem Orden gehörte ­ die humanistische Bewegung anbahnte, die von Anfang an mit einem erneuerten Augustinusstudium verbunden war. Für den Vf. bleibt der Humanismus vor allem die geistige Bewegung, die für die Freiheit des souveränen Individuums eintrat (124). Dieses undifferenzierte Humanismusbild verstellt dem Vf. den Blick für die Parallelität des Umgangs mit Augustinus bei Gregor und Luther. Denn daraus lassen sich inhaltliche Übereinstimmungen bei beiden verstehen, ohne daß Luther vor der Ausbildung seiner Rechtfertigungslehre Gregor gelesen haben muß, was der Vf. zutreffend als unbewiesen ansieht (VII. 119).

Einige Vergleiche mit Scholastikern oder Luther führen nicht weiter, weil der ausführlichen Darlegung der Vorstellungen Gregors nur eine unzureichende Zusammenfassung Luther gegenübergestellt wird.

Der Vf. sieht Gregor im Gegensatz zu einer weitgehenden "Trennung zwischen Religion und Moral, zwischen den Verhaltensregeln des Glaubens und denen der Vernunft", die "zum allgemeinen Lehrgut der Moraltheologie in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehört", betonen, daß für die moralische Gutheit "die Erfüllung der sittlichen Pflichten aus rein innerweltlichen Beweggründen" nicht ausreichen (56 f.), sondern immer die Gottesliebe erforderlich ist. Wenn die hier angesprochenen Unterscheidungen der seit dem Ende des 13. Jh.s aufkommenden Zweiregimentenlehre berührt werden, sollte stets ausgesprochen werden, daß es sich für die Vertreter dieser Vorstellungen um zwei Regimente des einen Gottes handelte, was mit dem Ausdruck "Trennung zwischen Religion und Moral" mindestens mißverständlich umschrieben ist.

Es überrascht, daß der Vf. Ockhamzitate nicht der kritischen Ockhamausgabe, sondern der Forschungsliteratur entnimmt. Das drängt die Vermutung auf, daß der Vf. die Ockhamlektüre gescheut hat. Er stellt Gregors "rationalistische Naturrechtslehre" als Reaktion auf den "ockhamistischen Moralvoluntarismus" dar und spricht von einem "antiockhamistischen Moralrationalismus" (22-26. 30). Dazu entnimmt er aus Ockhams Erörterung der Frage "Utrum angelus malus semper sit in actu malo" einen Einwand, der die Verdienstlichkeit der Gottesliebe in jedem Fall hinterfragen soll. Demgegenüber wird der Standpunkt Gregors aus seiner recta-ratio-Lehre abgeleitet. Durch dieses Vorgehen lassen sich erhebliche Gegensätze zwischen den beiden Spätscholastikern herausstellen. Daß die recta-ratio-Lehre bei Ockham auch sehr breit entfaltet ist, erfährt der Leser nicht. Sollte nicht erst einmal auf derselben Ebene verglichen werden, ehe weitere Gesichtspunkte einbezogen werden?

Der Vf. verzichtet darauf, an die seit Jahren geführte Diskussion über einen angeblichen Moralpositivismus Ockhams anzuknüpfen, die 1987 durch Veröffentlichungen von Marilyn McCord Adams weitergeführt und 1992 in einem Gastvortrag von Rega Wood in Leipzig vertieft worden ist. Diese Forschung hat erbracht, daß die gegen Ockham vorgebrachten Vorwürfe sich nur auf wenige, aus dem Zusammenhang gelösten und in seine Frühzeit gehörende Zitate gründen, Ockhams Entwicklung nicht beachten und im Widerspruch dazu stehenden Aussagen nicht einbeziehen. Bei der Lektüre dieser Dissertation begreift man die Fragen nordamerikanischer Historiker und Theologen: Warum werden unsere Veröffentlichungen in der deutschsprachigen Forschung oft nicht beachtet? Es sollte in Deutschland nicht mehr möglich sein, sich über den Doctor venerabilis zu äußern, ohne die im Zusammenhang mit der kritischen Ockhamausgabe entstandene Forschung heranzuziehen.

In bezug auf Luther stellt der Vf. zutreffend fest, daß manche evangelischen Forscher in der Gefahr stehen, Luthers Beziehungen zum Spätmittelalter herunterzuspielen, um seine Unabhängigkeit und damit die Richtigkeit seiner Theologie zu sichern, während manche römisch-katholische Forscher einen Unterschied herausarbeiten, damit der Schatten des Ketzers Luther nicht auf Gregor oder den Orden der Augustinereremiten fällt. So zeigt der Vf. in bezug auf die Sünden- und Gnadenlehre mehr Übereinstimmungen zwischen Gregor und Luther auf, als es üblich ist. Aber es gelingt ihm nicht immer, sachgemäß zu vergleichen, weil er Luthers Werk nur unzureichend heranzieht. Nachdem er z. B. deutlich gemacht hat, daß Gregor unter der Erbsünde die fleischliche Begierde im Sinne der libido versteht, behauptet er, das Luther genau dasselbe über die Erbsünde sage (151). Er übersieht, wie sehr sie für Luther Selbstliebe im umfassenden Sinne ist, die sich z. B. ­ wie Ricardo Rieth gerade in seiner Dissertation aufgezeigt hat ­ in der Habsucht ganz wesentlich ausdrückt.

Bei die Rechtfertigungslehre betreffenden Vergleichen zieht der Vf. nur Lutheraussagen zu ihrer forensischen Seite heran. Er sieht einen fundamentalen Unterschied darin, daß für Gregor die Taufe die Vergebung der Erbsünde bewirke, bei Luther dagegen "keine Tilgung, sondern lediglich eine Nicht-Anrechnung der Sünde" (157). Nach Luthers Aussage im Großen Katechismus bringt die Taufe aber "Überwindung des Teufels und Tods, Vergebung der Sünden (peccatorum remissionem!), Gottes Gnade, den ganzen Christum und heiligen Geist mit seinen Gaben". Was ist also mit einem solchen Kurzschlußvergleich gewonnen? Der Vf. übergeht, was Luther zur sanatorischen Seite der Rechtfertigung oder gar zu Vergöttlichung des Menschen, was die finnische Lutherforschung seit Jahren herausstellt, zu sagen hat.

Diese dem Sachverhalt unangemessenen Vergleiche mindern den Wert der überzeugend auf die Gottesliebe bezogenen Darstellung der Sünden- und Gnadenlehre des Gregor von Rimini erheblich.