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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

319–322

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich, u. Henrik Simojoki

Titel/Untertitel:

Moderne Religionspädagogik. Ihre Entwicklung und Identität. M. e. Beitrag v. W. Simon.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus; Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. 319 S. m. Tab. 8° = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 5. Kart. EUR 39,95. ISBN 3-579-05294-2 (Gütersloher Verlagshaus); 3-451-28521-5 (Herder).

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Die Tübinger Religionspädagogen Friedrich Schweitzer und Henrik Simojoki legen mit der Studie »Moderne Religionspädagogik. Ihre Entwicklung und Identität« Überlegungen zu Geschichte und Zukunftsfähigkeit von Religionspädagogik in sechs Kapiteln vor.
Das erste Kapitel thematisiert die zentrale Frage »Was ist Religionspädagogik?« (10–26). Zwar sei Religionspädagogik »als Idee bereits nach der Aufklärung entwickelt« worden, ihre »institutionelle und praktische Verwirklichung« hätte aber erst unter den Bedingungen der Moderne vollzogen werden können. Religionspädagogik solle daher weder als »Vereinnahmung der Katechetik durch die Pädagogik« (Schilling) noch als »Ergebnis eines Emanzipationsprozesses« (Bockwoldt), sondern programmatisch verstanden werden. Die »Neubegründung und Positionierung der Religionspädagogik seit den 70er Jahren« rücke im Spiegel ihres Entstehungszusammenhangs mit der (ersten) Moderne in ein neues Licht.
Dementsprechend thematisiert das (umfängliche) 2. Kapitel »Programm und Entwicklung der modernen Religionspädagogik« (27–163). »Religionspädagogische Diskurse« werden auf der Basis der (evangelischen) »Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht« (MERU) und der (katholischen) »Katechetischen Blättern« (KatBl) rekonstruiert und in ein dreiphasiges Modell eingezeichnet: Auf die »Aufbruchsphase der modernen Religionspädagogik« im Kaiserreich folgen »Religionspädagogik im Krieg« sowie »Religionspädagogik in der Demokratie«. Dabei kommen zunächst die MERU in den Blick, die 1908 von H. Spanuth als »positionelles Forum« (neu) gegründet wurden. Die diskursanalytische Rekonstruktion ergibt, dass sich Spanuths Forderung nach »Selbstbindung der Religionspädagogik an die Ergebnisse der historischen Theologie« nicht durchsetzen konnte (37). Zwar akzeptierten Autoren wie F. Feigel, Kabisch oder Niebergall die »religionsgeschichtliche Theologie« als Grundlage für den Streit um die Lehrbarkeit der Religion (die Religionsgeschichtliche Schule selbst beteiligte sich an diesen Diskussionen nicht), andere Religionspädagogen hätten aber vor einer erneuten Intellektualisierung (R. Peters), dem »Rück­fall in alte Abhängigkeitsverhältnisse« (Thrändorf), der (neuen) Abhängigkeit von Forschungsresultaten (Schian) oder dem »akademischen Impetus der entschlossenen Vertreter der religionspädagogischen Reformbewegung« (Eger) gewarnt. Weit ernüchternder gestaltete sich der Rückbezug auf die zeitgenössische Pädagogik (»reformpädagogische Ansätze und eine Pädagogik ›vom Kinde aus‹ [wurden] jedenfalls eher verhalten und zumeist kritisch rezipiert« (37), auf die empirische Psychologie – die Artikel geraten unter »Dilettantismusverdacht« – oder auf die Soziologie (41). Lediglich H. Richert scheint mit seinem Hinweis auf die »Verschiedenheit religiöser Erfahrung« an zeitgenössische Diskussionen im angelsächsischen Bereich angeknüpft zu haben. Moderne Religionspädagogik beziehe daher im Ergebnis »ihre Identität und Legitimation vor allem aus dem normativen Bezug auf den Religionsunterricht der Schule« (42). Dem fehlenden politischen Rückhalt, der sich wesentlich der »konzeptionelle[n] Pluralität im eigenen Lager« verdankt habe, wurde seit 1911 durch die Gründung des hohe Mitgliederzuwächse verzeichnenden »Bundes für Reform des Religionsunterrichts« (BRRU) entgegengewirkt, der die MERU zu seinem Organ erkor. Religionspädagogik wurde fortan programmatisch verstanden, insofern mit dem Wechsel der leitenden Bezugswissenschaft (Psychologie statt Geschichte) der Übergang von der Katechetik zur Religionspädagogik (Niebergall) markiert werden konnte.
Die 1912 im BRRU diskutierten Dresdner Leitsätze, die die religiös-sittliche Erziehung sowie die Frage des religiösen Erlebens betonten, strittige Fragen – wie etwa die »Konfessionalität des Religionsunterrichts« – ausklammerten, gelten als »das bedeutendste Gemeinschaftsprodukt der religionspädagogischen Reformbewegung auf evangelischer Seite« (48). Auf katholischer Seite standen kirchliche Einschränkungen und notorischer »Bildungsrückstand« einem modernisierungsfreundlichen Kurs prinzipiell entgegen. Gleichwohl bildeten sich auch hier langfristig religionspädagogische Ansätze aus – nämlich in den seit 1875 bestehenden KatBl. Dabei rezipierten die im Münchner Katechetenverein (MKV) zusammengeschlossenen »Religionspädagogen« mit der Münchner Methode eine (herbartianische) Psychologie, die auf evangelischer Seite als veraltet galt. Nachdem 1909 ein Wechsel der Herausgeberschaft zu J. Göttler und Stieglitz vollzogen war, konnte die Moral- und Willenspädagogik Foersters zur theoretischen Basis des Verhältnisses von Katechetik und Pädagogik avancieren. Dabei fiel allerdings auch in den KatBl eine Auseinandersetzung mit der nach Autonomie strebenden Pädagogik weitgehend aus. Pädagogik wurde mit Willmann als christliche Erziehungswissenschaft verstanden. Die überwiegend aus dem angelsächsischen Bereich stammende experimentelle Psychologie stieß demgegenüber in der »lehramtlich sanktionierten Dogmatik« an Grenzen (68 f.). Auch kamen apologetische Zielsetzungen auf – wie etwa der Nachweis, »dass die katholische Weltanschauung den Rationalitätsanforderungen der Moderne« standhalten müsse. Schließlich nahm man sich mit der Alkoholfrage, dem Kinoproblem oder der sexuellen Aufklärung der krisenhaften Folgen des gesellschaftlichen Wandels an. Dabei war es insgesamt jedoch nicht wie auf evangelischer Seite die »autonomiebestrebte Lehrerschaft«, sondern der Klerus, der der Reformbewegung Gestalt verlieh (77).
Im Ersten Weltkrieg überbot man sich in den MERU hinsichtlich einer Zustimmung zu den Kriegszielen. Dies gilt nicht nur für renommierte Religionspädagogen wie etwa Spanuth und Niebergall, sondern auch für den BRRU, dessen Vorstand forderte, den Kindern »das geschichtliche und religiöse Erbe des deutschen Volkes« (A. Krohn) darzubieten (86). Auf katholischer Seite wurde man sich erst im Krieg der Kaisertreue gewärtig, lösten sich doch seit 1914 die engen Verbindungen zwischen MKV und katechetischer Bewegung im Nachbarland Österreich (92). Das Zurücktreten der Kriegsbegeisterung seit 1915 löste einen Entwicklungsschub aus, der Begriff Religionspädagogik wurde 1917 als programmatischer Leitbegriff eingeführt: Die religiöse Überzeugung galt fortan zwar nicht als lehrbar, wohl aber als »erziehbar« (94). Die »normative, kirchliche und theologische Selbstbindung der katholischen Re­formbewegung« scheint somit die katholische Religionspädagogik »vor einer allzu kritiklosen Anpassung an die zeitgenössische Staatsmetaphysik und nationalistische Integrationsideologie« bewahrt zu haben (98).
In der Weimarer Republik stellte die sich intensivierende gesellschaftliche Modernisierung – u. a. der Übergang zur parlamentarischen Demokratie, die (spezifische) Trennung von Staat und Kirche – vor neue Herausforderungen. Führende Vertreter des BRRU, aber auch der in den MERU publizierenden Lehrerschaft propagierten das Programm einer »weltlichen Schule« oder forderten die Abschaffung des Religionsunterrichts. Auf theoretischer Ebene entzogen sich die Vertreter der »religionspädagogischen Reformbewegung« weithin einer Auseinandersetzung mit den neuen theologischen Strömungen (Dialektische Theologie, Luther-Renaissance); man präferierte eine »Annäherung der modernen evangelischen Religionspädagogik an völkische Gedankenfiguren und Argumentationsmodelle« (121–124). Während die evangelische Religionspädagogik mithin in die Defensive geriet, kam es auf katholischer Seite zu einer Verstetigung der Reformbemühungen, ja zu einem Aufbruch, der 1921 nicht nur zu einer Umwandlung des (regionalen) MKV in den Deutschen Katechetenverein führte, sondern auch zu einer grundsätzlichen »Neuausrichtung der Theorie, vor allem aber der Praxis der Katechese« (131). Die »Erweiterung der Katechetik zur Religionspädagogik« blieb dabei aus Sicht der Beteiligten eine (programmatische) »Zukunftsaufgabe« (155).

Das 3. Kapitel stellt »Deutungsperspektiven« vor, die sich für die »Religionspädagogik im Horizont gesellschaftlicher Modernisierung« ergeben (164–223). Dabei wird unter Modernisierung vor allem die funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche verstanden (167). Diese umfasse mit Blick auf die Religionspädagogik den Wandel der religiösen Kultur – auf evangelischer Seite die Pluralisierung, auf katholischer Seite der Rückzug auf die Kirche bzw. auf das katholische Milieu – (170–183), die Neuordnung des Verhältnisses zwischen Staat, Kirche und Schule: Religionsunterricht werde nicht mehr ausschließlich von der Kirche her veranstaltet (183–189), die Professionalisierung der Religionspädagogen – evangelische Volksschullehrer stehen dem katholischen Klerus gegenüber – (189–206) sowie schließlich die Verwissenschaftlichung von Religionspädagogik in den Bereichen Psychologie und Pädagogik. Religionspädagogische Theorie sei nicht einfach Überbau, sondern zeichne sich auf diese Weise in das Gesamtgefüge von Praktischer Theologie, Soziologie und Psychologie ein (206–222).
Während das 4. Kapitel die Frage, ob es sich bei der skizzierten Religionspädagogik um zwei oder eine Geschichte(n) handele, mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen offen lässt (224–236), benennt das 5. Kapitel (236–251) Stärken und Schwächen der »modernen Religionspädagogik«. Zu den Stärken zählt vor allem die Öffnung der religionspädagogischen Diskurse für die benachbarten Disziplinen, die akademische Professionalisierung (insbesondere die Einrichtung bayrischer Lyzealprofessuren und Göttlers Münchner Professur für Katechetik und Pädagogik) sowie die Selbstorganisation der Lehrerschaft. Als Schwachpunkte gelten demgegenüber die begrenzte Modernitätsfähigkeit evangelischer Religionspädagogik jenseits des Kaiserreichs, der Verzicht auf die Reflexion interkonfessioneller und interreligiöser Verhältnisse, die nicht reflektierte Barriere zwischen Fachleuten und Laien sowie der Verzicht auf eine theologische Reflexion der psychologischen Theoriebildung. Hinzu kommen verschiedene Folgeprobleme, deren Lösung der (post-)modernen Religionspädagogik gewissermaßen aufgegeben ist: die Ambivalenz von Spezialisierungsstrategien, die Privatisierung von Religion, der weitgehende Ausfall eines Diskurses mit der Pädagogik und schließlich die Einengung von Religionspädagogik auf den schulischen Bereich! Kapitel 6 beschreibt das methodologische Vorgehen der Studie: Die Bildung von Bearbeitungs- und Vergleichskategorien erfolgt überwiegend vor der Dis­kursanalyse. Quantitative Tabellen geben Auskunft über die Trägerschaft. (Auf welche Rubriken sich diese Angaben beziehen, bleibt leider unklar.) – In einem Schlusskapitel würdigt der Mainzer katholische Religionspädagoge W. Simon den interkonfessionellen Ansatz der Studie, macht aber zugleich auf Desiderate – wie etwa die Notwendigkeit regionaler Differenzierungen – aufmerksam.
Die Verfasser legen ein ambitioniertes Werk zu Geschichte und Entstehung von Religionspädagogik vor, dessen erklärtes Anliegen es ist, die eigene Disziplin als programmatisches »Konzept der Moderne« zu verstehen und sich im Spiegel von MERU/BRRU und KatBl/MKV dieses (Selbst-)Verständnisses zu vergewissern. Kritisch zu fragen ist gleichwohl, ob sich die programmatischen Kategorien und Deutungsperspektiven (Kapitel 3, 5 und 6) mit den analytischen Befunden des zweiten Kapitels wirklich abgleichen lassen. Stellt sich doch ein Entsprechungsverhältnis zwischen program­matischem Ansatz und Diskursrekonstruktion vor allem hinsichtlich der Abwehr einseitiger, d. h. liberal-theologischer Positionen ein (s. o.).
Gerade die für die Religionspädagogik so wichtigen Bezugswissenschaften Pädagogik und Psychologie werden (fast) nicht diskutiert. Und es kommt hinzu, dass die Konzentration auf die ausgewählten Organe MERU und KatBl (gelegentlich) den Blick auf »wirkliche« Diskurse oder Diskursbedingungen verstellt: Bei dem mehrfach zitierten Aufsatz H. Richerts zum Thema moderne Psychologie handelt es sich um einen fast wörtlich wiedergegebenen Vortrag vor der Versammlung von Religionslehrern an höheren Schulen in Eisenach (MERU 7/1914, 252–258; ZevRU 25/1914, 339–348); selbst nach Gründung des BRRU verzichteten die MERU nicht auf ihre positionell-liberale Berichterstattung (Chronik). Auch relativieren sich Größe und geographische Streuung des BRRU, wenn man berücksichtigt, dass die hohe Zahl von 10000 Mitgliedern 1913 vor allem dem Beitritt des sächsischen Lehrervereins mit seinen 5000 Einzelpersonen zuzuschreiben ist (MERU 5/1912, 168). Dass die Religionspädagogik regional bedingt auf sehr unterschiedliche Voraussetzungen stieß, wird nicht nur von Simon kritisch vermerkt. So fanden die spannend geschilderten Vorgänge um den BRRU ausschließlich in Sachsen und Thüringen statt; Ähnliches gilt für die Münchner Dominanz auf katholischer Seite. Mit Blick auf die bayrischen Lyzealprofessuren sei schließlich nur angemerkt, dass in Preußen zur gleichen Zeit rund ein Drittel aller in Gymnasien, Lyzeen und Lehrerseminaren arbeitenden Beamten offiziell den Titel »Professor« führten.
Der programmatische Ansatz hat gerade in seiner modernisierungstheoretischen Variante etwas strukturell Bestechendes. Ob allerdings das Buch einen Beitrag zur Entwirrung der komplexen Entstehungsbedingungen von Religionspädagogik leisten kann, ist angesichts einer fehlenden Auseinandersetzung mit alternativen Rekonstruktionsversuchen eher zweifelhaft.