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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

310–313

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Dieterich, Veit-Jakobus

Titel/Untertitel:

Religionslehrplan in Deutschland (1870–2000). Gegenstand und Konstruktion des evangelischen Religionsunterrichts im religionspädagogischen Diskurs und in den amtlichen Vorgaben.

Verlag:

Göttingen: V&R unipress 2007. 735 S. gr.8° = Arbeiten zur Religionspädagogik, 29. Geb. EUR 76,00. ISBN 978-3-89971-324-4.

Rezensent:

David Käbisch

In der Religionspädagogik hat sich in den vergangenen Jahren die Überzeugung durchgesetzt, dass eine auf ihre Klassiker be­schränkte Disziplingeschichte einen wichtigen, aber keinen um­fassenden Einblick in die Geschichte des Religionsunterrichts gewährt. Vor allem für die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis erweist sich die isolierte Rekonstruktion der Fachdiskussion an­hand monographischer Literatur als Verkürzung, da die an der Schnittstelle von Theorie und Praxis stehenden Publikationsgattungen und die Praxis selbst nur unzureichend erfasst werden. Mit seiner Studie zu den zwischen 1870 und 2000 entworfenen und verworfenen Religionslehrplänen wendet sich Veit-Jakobus Dieterich damit einer bisher wenig beachteten Gattung zu, die tiefe Einbli­cke in Theologie und Pädagogik, Zeitgeschichte und Schulpolitik gewährt. Im Mittelpunkt stehen Inhaltsanalysen, die sich jedoch immer wieder zu einer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Lehrpläne erweitern. Leitendes Darstellungskriterium ist der Vergleich zwischen den Lehrplanvorstellungen einzelner Autoren im religionspädagogischen Fachdiskurs und den amtlichen Vorgaben.
Nach der Begründung seines Vorhabens (25–135) wendet sich D. zunächst dem Herbartianismus im letzten Drittel des 19. Jh.s zu (137–173). Charakteristisch für die in dieser Zeit diskutierten und amtlichen Lehrpläne sind die historischen Stoffe (Geschichte Israels, Urgemeinde und Kirchengeschichte), während dem Katechismus eine neue Funktion zugewiesen wird, sei es als Dokument für eine bestimmte kirchengeschichtliche Entwicklungsstufe (Historisierung), Ausdruck der Frömmigkeit Luthers (Psychologisierung) oder als populäre Zusammenfassung des Glaubens (Systematisierung). D. erbringt so den überzeugenden Nachweis, dass der Bruch zwischen Herbartianismus und der folgenden Reformpädagogik gerade »im Blick auf die Religionslehrplanfrage keinesfalls so abrupt, tief und eindeutig ist, wie mitunter (auch von den damaligen Akteuren) wahrgenommen wurde« (166). Gleichwohl folgt die weitere Darstellung der Religionslehrplankonzeptionen der üblichen Epocheneinteilung, d. h. dem Herbartianismus lässt D. die Reformreligionspädagogik im ersten, die Verkündigungskonzeption im zweiten und die themenzentrierte Religionsdidaktik im letzten Drittel des 20. Jh.s folgen.
Das reformpädagogische Religionslehrplanparadigma interpretiert D. »als Reflex auf die Moderne«, das im Unterschied zur späteren Verkündigungskonzeption »die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Welt in ihrer Pluralität« gesucht und »die objektive Welt der Kultur« und »die Lebenswelt der Heranwachsenden« in den Blick genommen habe (562). Kritisch ist zu dieser Epocheneinteilung anzumerken, dass in einer modernisierungstheoretischen Perspektive die Abgrenzung einer Pädagogik der Reform von einer der Nicht-Reform schwierig wird. Auch »der erste und vielleicht bedeutendste Protagonist der Verkündigungskonzeption« (319) – gemeint ist Gerhard Bohne – verhandelte das Problem konkurrierender Wertesysteme in der Moderne, zudem setzte er die aus der zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Pädagogik bekannte Unterscheidung zwischen objektiver Kultur und subjektivem Erleben voraus und plädierte für einen Erlebnisunterricht, da nur dieser der inneren Lage des Jugendlichen gerecht wird. Ein Bekenntnis zur Pluralität im Sinne einer bejahten Vielstimmigkeit sucht man freilich bei Bohne ebenso vergebens wie bei den liberaltheologischen »Reformern«, wie überhaupt die heute vieldiskutierte Frage nach einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik kaum geeignet ist, den damaligen Fachdiskurs thematisch zu erfassen. Sehr informativ und erhellend sind demgegenüber die von D. herausgearbeiteten Ungereimtheiten, die zu Tage treten, wenn man Bohnes 1934 ausgearbeiteten Lehrplanvorschlag an seinen eigenen Reformzielen misst, da die Bewertungskriterien ganz aus den Quellen erhoben werden (313).
Im Zusammenhang der Religionslehrplanentwicklung in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur überrascht zunächst die Beobachtung, dass trotz der von Anfang an forcierten Gleichschaltungspolitik erst ab 1937 reichseinheitliche Lehrpläne für das Fach Religion erlassen wurden (349). Ausgehend von dieser Beobachtung weist D. verständlich nach, dass die aus der Weimarer Republik stammenden Richtlinien genug Deutungsspielräume für die nationalsozialistische Ideologie boten, so dass deren Ersetzung vorerst warten konnte. Die u. a. von Folkert Rickers vertretene These, dass sich nationalsozialistisches Denken schon lange vor 1933 in der Religionspädagogik etabliert hatte und daher unmittelbar anschlussfähig war, findet damit eine auf den Lehrplan bezogene Bestätigung. Zu den Kontinuitäten gehört auch die Fortführung reformpädagogischer Ideen, die man allerdings nicht wie D. »erstaunlicherweise« (352) zur Kenntnis nehmen muss, da die Betonung des Gegenwartbezugs, die Verabsolutierung der vorfindlichen Kultur beim Erziehungsvorgang, die Natur als Maß des Menschen und erlebnispädagogische Elemente bereits hier angelegt sind.
Zu hochinteressanten und differenzierenden Einsichten ge­langt D. bei der Auswertung von Lehrplanentwürfen im Umfeld der Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche, die beide eine hohe Heterogenität aufweisen und in Einzelfragen durchaus konvergieren konnten.
Die Diskussion um die Lehrplaninhalte, die sich u. a. auf das Alte Testament, die Bedeutung germanischer Religion und das Verhältnis zum Nationalsozialismus bezog, zeichnet D. für Thüringen, Württemberg und weitere Regionen nach. Dem Lehrplanparadigma der Bekennenden Kirche sei es zumindest »in einzelnen seiner Ausformulierungen« (380) gelungen, einen Gegenakzent gegen die herrschende Ideologie zu setzen, so bei der christologischen Begründung des Unterrichts und der »Rettung« des Alten Testaments als Unterrichtsgegenstand. D. erfüllt mustergültig den Anspruch an eine regional differenzierte Geschichtsforschung, indem er beispielsweise die Heterogenität der Deutschen Christen in Thüringen beschreibt, die in den Lehrplanvorstellungen wiederkehrt (360–363). Hervorzuheben ist, dass D. erstmals die Lehrplanvorstellungen der Protagonisten der Verkündigungskonzeption im zeitgeschichtlichen Kontext untersucht. Überzeugend gelingt ihm dabei der Nachweis, dass die politischen Zäsuren 1933 und 1945 keinen unmittelbaren Bruch im religionspädagogischen Denken bedeuteten und die Verkündigungsposition bis in die 1960er Jahre wirksam blieb. Der vielfach als eigene Epoche hervorgehobene texthermeneutische Religionsunterricht schlägt sich demgegenüber nicht in den Lehrplänen nieder.
Die problemorientiert-themenzentrierte Religionsdidaktik im letzten Drittel des 20. Jh.s zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit der geisteswissenschaftlichen Tradition der Pädagogik bricht und die Curriculumstheorie von Saul B. Robinsohn rezipiert, die weniger die Vergangenheits-, sondern die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung bei der Begründung von Lerninhalten betont. Zutreffend stellt D. fest, dass sich seit dieser Zeit jeder Pädagoge die Subjekt- und Schülerorientierung »auf seine Fahnen« (455) schreibe, die konkreten Auswirkungen auf die Lehrplangestaltung jedoch kaum diskutiert und bisher nicht untersucht wurden. Das Verdienst D.s besteht darin, die impliziten und expliziten Konsequenzen in den Konzeptionen von Hans-Bernhard Kaumann, Karl Ernst Nipkow, Heinz Schmidt und Peter Biehl nachzuzeichnen (wobei allerdings die Darstellung der Konzeptionen zu umfangreich und das eigentliche Thema zu kurz geraten sind).
So zeichnet das Kapitel zu Biehl das Anliegen seiner Symboldidaktik nach, referiert die bekannte Diskussion zum Symbolbegriff und vergleicht sie mit dem Ansatz von Hubertus Halbfas, statt die impliziten und expliziten Konsequenzen für den Lehrplan zu rekonstruieren (450–454). Insgesamt erbringt D. jedoch den plausiblen Nachweis, dass die Curriculumstheorie für die Ge­schichte des Religionslehrplans in Westdeutschland eine folgenreiche Zäsur bedeutete. Bezogen auf die dortigen amtlichen Lehrpläne stellt D. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen in den Mittelpunkt und vergleicht diese mit anderen Regionen (467–500). Ein eigenes Unterkapitel erhalten die Pläne zur Christenlehre in der DDR. Die Aufnahme von Elementen einer curricularen Pädagogik und einer themenzentrierten Religionspädagogik in den Jahren nach 1968 sei mit den westdeutschen Veränderungen zwar nicht identisch, zeige aber, dass gesamtpädagogische Entwicklungen auch in der DDR rezipiert wurden. Vergleichbar ist auch die zeitgleich einsetzende Kritik an der »Weltfremdheit« und dem »Wirklichkeitsverlust der katechetischen Unterweisung«, wie u. a. der sog. Goßner-Plan aus dem Jahr 1968 dokumentiert (500).
Das Kapitel zur Religionslehrplanentwicklung in der ›Berliner Republik‹ – gemeint sind die Jahre 1990 bis 2000 – zeichnet sich da­durch aus, dass sich die Darstellung nicht an einzelnen Personen und Regionen orientiert, sondern Aspekte der Lehrplananalyse systematisiert, so den institutionellen Bezug zur Kirche, das vorausgesetzte Schüler- und Lehrerbild und die theologischen Implikationen. D. kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass es den Plänen in den neuen Bundesländern nicht gelungen sei, »eigene Akzente zu setzen oder innovative Impulse einzubringen« (552). Der hohe Anteil konfessionsloser Schüler im Religionsunterricht, die besondere historische Situation und das Erbe der heute noch bestehenden Christenlehre finden keinen Niederschlag in den Lehrplänen, wie überhaupt – so könnte man ergänzen – die Ausarbeitung einer ostdeutschen Religionsdidaktik ein Desiderat darstellt. Schade ist, dass der Abschnitt zu den theologischen Aspekten der Lehrplanentwicklung lediglich Ergebnisse referiert, die in der von Hartmut Rupp und Heinz Schmidt im Jahr 2001 herausgegeben Studie zu den Bildungsplänen in Baden-Württemberg veröffentlicht sind, ohne den Nachweis anzustreben, ob die dort konstatierte Tendenz zur theologischen Verharmlosung wirklich »exemplarisch« (543) z. B. für andere Bundesländer steht. Zu Recht kritisiert D. allerdings, dass diese Einzelfallstudie nur unzureichend »die Grenzen zwischen dem Wissenschafts- und dem Erziehungssystem« (553) beachtet und Beurteilungskriterien anlegt, die nicht den Standards einer Lehrplananalyse genügen, wie sie sich in den Erziehungswissenschaften etabliert hat und wie sie in der Religionspädagogik längst überfällig war.
D.s Untersuchung genügt demgegenüber voll und ganz diesen Standards. Es gelingt ihm, die Inhaltsanalysen mit anspruchsvollen Entstehungsanalysen zu verbinden, die den zeitgeschichtlichen Kontext, die schulpolitischen Rahmenbedingungen, die theologischen Entwicklungen und den religionspädagogischen Diskurs einbeziehen. Die Wirkungsgeschichte von Lehrplänen in Schulbüchern und der Unterrichtspraxis tritt, wie D. selbst be­merkt, aus methodischen Gründen zurück. Dies schmälert aber nicht den Wert der Untersuchung, die nicht zuletzt wegen der umfangreichen Bibliographie zu den amtlichen Richtlinien und Lehrplänen die weitere Forschung anregen wird. Leider fehlt ein Personen- und Sachregister, das dem Leser ermöglicht hätte, gezielt nach der Bedeutung der Kirchengeschichte, der Stellung des Katechismus oder anderen Themen im Wandel der Zeiten zu fragen. Hervorzuheben ist, dass D. in einem Ausblick (607–642) anschaulich nachweist, dass sein Thema aktuellen Lehrplandebatten historische und systematische Tiefenschärfe verleiht: Denn alles, was ist, ist geworden. Einer zuweilen einseitig empirisch ausgerichteten Religionspädagogik ist daher zu wünschen, dass weitere Arbeiten von diesem Format hinzutreten, um die Gegenwart mit ihren Herausforderungen besser verstehen zu können.