Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2008

Spalte:

287–289

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lüke, Ulrich

Titel/Untertitel:

Das Säugetier von Gottes Gnaden. Evolution, Bewusstsein, Freiheit.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2006. 336 S. 8°. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-451-28859-3.

Rezensent:

Wolfgang Schoberth

Der Titel des Buches bezeichnet das Programm des in Aachen lehrenden katholischen Systematikers: Er unternimmt den Versuch einer Integration theologischer und biologischer Perspektiven, um »das Loblied auf den evolutiv wirksamen Schöpfer und das evolutiv bewirkte Geschöpf Mensch« ganz neu singen zu können (19). Die Aufgabenstellung ist eine doppelte: L. sucht nach den Konturen einer theologischen Anthropologie, die auf der Höhe der biologischen Forschung ist und zugleich den ethischen Herausforderungen begegnen kann, die im Gefolge der zeitgenössischen Biowissenschaften entstehen. Eine Integration theologischer und biologischer Perspektiven bedeutet für den studierten Biologen gerade nicht eine Übernahme biologischer Vorgaben, die auf eine Verdünnung theologischer Aussagen hinausliefe, und schon gleich nicht eine Anpassung an die anthropologischen und ethischen Folgerungen, wie sie von manchen Naturwissenschaftlern und Philosophen gezogen werden und auf große Resonanz nicht nur in den Feuilletons stoßen. L. gibt vielmehr eine gründliche Auseinandersetzung mit gängigen und publikumswirksamen Argumentationsmustern; sein Buch ist nicht nur an Fachkundige adressiert, sondern stellt auch für einen weiten Leserkreis notwendige Klärungen bereit.
L. legt bewusst keinen umfassenden Entwurf theologischer An­thropologie vor, der angesichts der gegenwärtigen Diskussionslage auch kaum möglich erscheinen muss. Die Anthropologie ist momentan »eine einzige gigantische Großbaustelle bestehend aus zahllosen Einzelbaustellen« (11); er konzentriert sich darum auf einige in der auch öffentlich geführten Diskussion besonders brisante Komplexe.
Das erste Kapitel, »Der Mensch – nichts als Natur?« (27–61), dis­kutiert kritisch Naturalismus und Reduktionismus und zeigt, wie diese ihre eigenen hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen verdrängen. Die behauptete wissenschaftliche Nüchternheit entpuppt sich als ein seinen Vertretern möglicherweise selbst nicht bewusstes Glaubenssystem. Darum ist der Theologie gegenüber »mancher naturalistischen Welterklärungshochstapelei« mehr »Verblüffungsfestigkeit im Diskurs« (61) zu wünschen.
Der Überblick über »Die Schöpfungserzählungen des Alten Tes­taments« (62–86) betont deren Eigenart, die gerade keine Konkurrenzerzählungen zu wissenschaftlichen Weltentstehungstheorien sind; angesichts der immer noch präsenten Missverständnisse ist das wohl immer wieder notwendig zu wiederholen. Auch der be­liebte Vorwurf des Anthropozentrismus geht ins Leere, insofern dieser in der biblischen Tradition vom Theozentrismus umgriffen und relativiert ist. Wo aber die methodischen Grenzen der jeweiligen Perspektive im Blick bleiben, kann »Evolution als Kreation – Kreation als Evolution« (87–99) wahrgenommen werden.
Die biologische, aber vor allem theologische Borniertheit des Kreationismus diskutiert L. im anschließenden Kapitel »Schöpfungstheologie – (k)ein Kontra zur Evolutionstheorie« (100–133), ohne schon den bloßen Gedanken an eine Finalität in der Natur unter Obskurantismusverdacht zu stellen. L. zeigt vielmehr, dass die Annahme eines intelligenten Designers (wie ihre Bestreitung) keine wissenschaftliche Aussage sein kann, aber doch lohnend zu diskutieren ist: Die Evolutionstheorie ist als biologische Theorie nicht sinnvoll zu bestreiten, reicht aber eben darum zu einem umfassenden Verständnis der Naturgeschichte nicht aus.
Im Kapitel »Noch-Tier oder Schon-Mensch? Zum Rubikon der Ho­minisation« (134–166) werden frühgeschichtliche Belege für Re­ligiosität und Transzendenzbewusstsein diskutiert; L. entwi­ckelt daraus einen eigenen Begriff der »Seele«, der auf die »empirisch fassbaren und damit in Verbindung gebrachten biologisch-sozialen und religiös-rituellen Verhaltenseigentümlichkeiten und Artefakte« verweist (156). Dies hat auch Konsequenzen für das Verständnis der individuellen Entwicklung eines Menschen: Wenn Beseelung als »Bedingung der Möglichkeit für die sich in der Karyogamie vollziehende einmalige Konstituierung eines neuen genetischen Programms an einer spezifischen Raum-Zeit-Stelle« (162) gefasst werde, so stehe das nicht im Widerspruch zum biologisch-medizinischen Befund; daraus folgt aber, dass es kein »vormenschliches« Stadium in der Entwicklung eines Menschen gebe. L. betont aber auch, dass der Begriff der Seele seinen eigentlichen Sinn in seinem hinweisenden Charakter hat: »Der Begriff Beseelung … ist Chiffre für den Geschenkcharakter jeder menschlichen Existenz …« (166).
Damit ist zugleich der Übergang zu dem (nicht eigens markierten) zweiten Teil gegeben, der sich auf die aktuellen ethischen Debatten konzentriert. »Der Mensch am Anfang – der Mensch am Ende« (167–206) behandelt die Problemfelder »verbrauchender« Forschungen an Embryo und »Sterbehilfe«. L. geht die Argumente der Befürworter durch und zeigt deren Schwachstellen, die den mehrfach angedeuteten Verdacht nahelegen, dass hier keine ge­naue ethische Argumentation leitend ist, sondern ein benennbares forschungspolitisches und ökonomisches Interesse. Demgegenüber hielten die Argumente für den Embryonenschutz von Anfang an (Kontinuität, Potentialität, Identität) der Kritik stand.
Die Determinismus-Problematik wird in »Freiheit des Geistes – Determination des Gehirns?« (207–273) vor allem in Auseinandersetzung mit Wolf Singer und Gerhard Roth bearbeitet; das Buch bietet hier eine solche Fülle an präzisen Argumenten, dass man sich wieder einmal wundern muss, wie derartig schwach begründete Anschauungen solche Resonanz finden können.
Die abschließenden Kapitel binden die thematisierten Aspekte wieder zusammen zur Kontur einer biologisch belehrten theologischen Anthropologie. Das »Nachdenken nach dem Denken oder dem Denken nachdenken« (273–297) nimmt die Grenzen des Denkens in den Blick, aus deren Bewusstsein ein reflektierter Glaube erwachsen kann: »Ich glaube an die Möglichkeit eines umfassenden Heils. Dieser Glaube ist, obschon rational kritisierbar, doch rational nicht hinreichend begründbar oder abschließend widerlegbar.« (297)
Einen Ausblick auf eine christologisch begründete Anthropologie gibt das »Nachspiel – Mensch von Gottes Gnaden« (298–304), das die Koinzidenz von Kreation und Inkarnation betont: »Theologisch-christlich gesprochen bedeutet die biologische Rekonstruktion von Evolution und Hominisation die Spuren sichernde Verfolgung der vestigia dei bis zur imago dei.« (303) Auch wenn damit das aus wissenschaftlicher Perspektive Aussagbare weit überschritten werden muss, betont L., dass die »erhellende Arbeit der Biologie« (303) für die theologische Anthropologie der Gegenwart unverzichtbar sei, und fordert darum für die »Naturwissenschaft ein Mitspracherecht« (304) und eine Konsultationspflicht der Theologie bei der Naturwissenschaft. Auf dieser Basis wird dann aber auch die kritische Stimme der Theologie deutlich: »Gott wird Mensch heißt, er wird genau das, was heute im Genscanning und Ultraschall bestimmten Wünschbarkeitskriterien unterworfen und selektiert wird« (300).
Auch wer, wie der Rezensent, der Möglichkeit der Zusammenführung von biologischen und theologischen Perspektiven skeptisch gegenübersteht, findet in dem materialreichen Band vielfältige Anregungen; L. argumentiert erfrischend streitlustig angesichts der populären, gleichwohl unhaltbaren Extrapolationen und biologistischen Strategien.