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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

282–283

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Johannes Duns Scotus

Titel/Untertitel:

Reportatio Parisiensis examinata I 38–44. Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz. Lateinisch. Deutsch. Hrsg., übers. u. eingel. v. J. R. Söder.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. 215 S. 8° = Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, 4. Geb. EUR 33,00. ISBN 3-451-28686-6.

Rezensent:

Beate Regina Suchla

Der Franziskaner Johannes Duns Scotus (um 1265–1308) stammte aus Schottland, studierte in Paris und Oxford, lehrte Theologie vor allem in Oxford, Paris und Köln und zählt als doctor subtilis neben Albert dem Großen, Thomas von Aquin, Bonaventura, Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und anderen zu den bedeutendsten Denkern des lateinischen Mittelalters.
Seine Vorlesungen zu den Sentenzen des Petrus Lombardus liegen in mehreren Fassungen vor: in der Fassung der Lectura Oxo­niensis, die vor 1300 entstand; des Opus Oxoniense (oder: Ordinatio), einer postumen Kompilation einiger Schüler; der Reportationes, das sind autorisierte und nicht-autorisierte Schü­ler­mitschriften, die über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sind. Unklar ist immer noch, ob eine Lectura Cantabrigensis, das ist ein in Cambridge gehaltener Kurs, hinzukommt.
Die hier edierte Reportatio Parisiensis examinata I 38–44 entstand im Pariser akademischen Jahr 1302/03. In ihr bringt Duns Scotus, der die Reportatio persönlich examinierte, d. h. autorisierte, die Frage nach den Wahrheitsbedingungen von Wissen unter den Bedingungen radikaler Kontingenz zu einer Antwort, die eine modern anmutende Philosophie der Freiheit entwirft.
Der Text dieser Reportatio examinata ist in fünf Handschriften des 14. und 15. Jh.s überliefert, die heute in Oxford, Rom, Wien und Turin liegen. Er war in der hier gebotenen Form bisher nicht ediert. Diese Edition ist daher eine Editio princeps, d. h. sie macht den Text erstmalig zugänglich. Darüber hinaus ist sie mit einer begleitenden deutschen Übersetzung versehen. Der Herausgeber von Text und Übersetzung, Joachim R. Söder, ist als Duns Scotus-Spezialist ausgewiesen, seine vor neun Jahren in Münster erschienene Monographie Kontingenz und Wissen kann gleichsam Text und Übersetzung als Kommentar begleiten, so dass ein umfassender Zugang zu diesem reifen Werk möglich wird.
Das Buch unterteilt sich in vier Abschnitte: Teil eins betrachtet das Leben und die Werke des Duns Scotus, geht seiner Lehre von Wissen, Macht und Kontingenz nach, berichtet über seine Pariser Vorlesung der Jahre 1302/1303 und referiert die Editionsrichtlinien des Herausgebers der Reportatio examinata (9–32). Teil zwei bietet dann den lateinischen Text und die deutsche Übersetzung der Reportatio examinata in sechs Abschnitten (33–207). Teil drei stellt eine Bibliographie bereit (209–213). Teil vier schließlich rundet den Band mit einem Register biblischer, antiker und mittelalterlicher Personen ab (215).
Das Werk korrigiert die Duns Scotus-Forschung: War man bisher der Meinung, Scotus würde im Willen Gottes die einzige Quelle der Kontingenz sehen und damit die Determiniertheit des menschlichen Willens lehren, zeigt der Text der hier edierten Reportatio examinata, dass nach Meinung des Duns Scotus »nicht nur der göttliche Wille Quelle von Kontingenz« sei, »sondern ebenso der menschliche Wille«, dass also auch der menschliche Wille Kontingenzursache, und zwar Zweitursache, sei (27 f.).
Der Band ist gelungen: Die Einleitung Söders ist knapp, aber stringent. Der lateinische Text ist übersichtlich strukturiert und gut lesbar. Die Übersetzung ins Deutsche ist textgetreu und dennoch flüssig. Die Bibliographie steht auf dem neuesten Stand, das Register ist lückenlos. Dennoch hat er auch einige Schwächen: So stellt sich die Frage, warum der lateinische Text auf der Grundlage nur einer einzigen Handschrift – das ist die Handschrift Oxford, Merton College 59, die als »Leithandschrift« bezeichnet wird (31) – konstituiert wurde. Zwar wird im textkritischen Apparat ein durchgängiger Vergleich mit der Wiener Handschrift lat. 1453 geboten, doch hätte man wohl erwarten dürfen, dass auch die beiden weiteren Handschriften Rom, Bibl. Vat. Borghese 325, und Turin, Univ. Bibl. K. II. 26, durchkollationiert und die Varianten im textkritischen Apparat präsentiert werden.
Dennoch darf der Band in keiner geisteswissenschaftlich ausgerichteten Bibliothek fehlen. Denn zum einen ist er für sich genommen ein bedeutendes Zeugnis eines unbestechlichen mittelalterlichen Denkers. Zum andern aber ist er ein unentbehrlicher Teil der Reihe Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, über die der renommierte Philosophiehistoriker Kurt Flasch schrieb, sie habe Charakter und verdiene jedes Lob (Vielfalt statt Scholastik, NZZ vom 22. 4. 2006).