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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

273–275

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Andreas

Titel/Untertitel:

Das Konzept des geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XIV, 496 S. gr.8° = Studien und Texte zu Antike und Chris­tentum, 37. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-148965-5.

Rezensent:

Erich Bryner

Andreas Müller legt in seiner Münchener Habilitationsschrift eine eingehende Analyse eines der wichtigsten spirituellen Werke des frühbyzantinischen Mönchtums, der »Leiter zum Paradies« des Johannes Sinaites (Johannes Klimakus, Johannes von der Leiter) vor. Es handelt sich um ein Handbuch für Mönche, in dem der Weg zur Vollkommenheit in 30 Stufen dargestellt wird. M. setzt mit der Datierungsfrage ein, stellt die im 20. Jh. weithin angenommene, auf François Nau zurückgehende Datierung mit dem Todesdatum ca. 670–680 in Frage und kehrt zur früheren Datierung ins 6. Jh. zurück, wonach Johannes etwa 525 geboren wurde, zu Beginn der 540er Jahre die Mönchsweihe erhielt, 580 oder 599 das Amt des Abtes (Hegumenos) erhielt und in dieser Zeit auch sein Werk geschrieben haben dürfte; das Todesdatum bleibt unbekannt. Liest man die »Klimax« als Werk des ausgehenden 6. Jh.s – so M. m. E. überzeugend –, dann lösen sich Probleme, die bei einer späteren Datierung entstehen, leichter, denn das Werk passt gut in die Krisensituation und die Umbrüche hinein, die durch die Kirchen- und Klosterpolitik Kaiser Justinians I. auf dem Sinai entstanden sind. Justinian I. (reg. 527–565), bekanntlich ein großer Förderer von Theologie und Kirche, verstand es, die Kirche für die Durchsetzung seiner politischen Ideen kräftig zu instrumentalisieren. Zur Symphonie zwischen politischer und kirchlicher Macht gehörte es für ihn, dass auch das Mönchtum in dieses System eingeordnet werden müsse, was bei den orientalischen Mönchen mit ihren oft eigenwilligen und charismatischen Grundideen nicht einfach war. Deswegen war der Kaiser an einem intakten, gut strukturierten und klar in die kirchliche Jurisdiktion eingebundenen koinobitischen Mönchtum sehr interessiert. Seinen historischen Ort hat das Werk des Johannes Klimakus im Spannungsfeld zwischen Charisma und Institution, das durch die kaiserliche Politik virulent geworden ist, und gibt Stellungnahmen und Antworten auf die Probleme von Geist und Autorität, indem es die Mönche an die absolute Autorität der »Geistlichen Väter« bindet.
Was den Umgang des Johannes Sinaites mit der Tradition betrifft, stellt M. trotz weniger wörtlicher Zitate und spärlicher Hinweise eine sehr starke Adaption der Bibel und der Mönchsväter der Wüs­te, aber keinen direkten Einfluss des Kirchenvaters und Mönchstheoretikers Basilius fest. Bezüglich der drei monastischen Organisationsformen – Koinobia (Zusammenleben in klösterlicher Gemeinschaft), Anachorese (Einsiedlertum) und Semianachorese (Zusammenleben in einer Kleinstgemeinschaft von zwei bis drei Einsiedlern) – zeigt sich bei Johannes eine gewisse Bevorzugung des semianachoretischen Weges, der später von den russischen Starzen des 19. Jh.s als »Königsweg« gepriesen werden sollte, doch er ist grundsätzlich offen für alle drei Wege mönchischer Existenz, da in ihnen allen das Ziel des engelgleichen Lebens ( angelikos bios), der Herzensruhe (hesychia) und der Leidenschaftslosigkeit (apatheia) erreicht werden kann, ja er sieht lieber einen Mönch, der als »armer Untergebener« in strikter Unterordnung in einer Klostergemeinschaft lebt, als einen zerstreuten Einsiedler.
In den Hauptabschnitten »Der ›Geistliche Vater‹« und »Der Geistliche Gehorsam« kommt M. zu den zentralen Themen seiner Untersuchung. Der »Geistliche Vater« mit seiner starken charismatischen Prägung wird von Klimakos verglichen mit dem Hirten, Führer und Steuermann, der den ihm Anvertrauten den Weg zum Himmel weist, mit dem Arzt, der therapeutisch wirkt und um die Gesundheit von Leib und Seele seiner Schüler besorgt ist, mit dem Lehrer, der aus seiner eigenen Gotteserfahrung heraus Unterweisung und geistliche Weisheit vermittelt, mit dem Richter, der durch Urteil und Strafe wirkt. Die Institution des »Geistlichen Vaters« hat für Klimakus in allen drei monastischen Organisationsformen höchste Bedeutung. In Analogie zur geistlichen Führerschaft steht der geistliche Gehorsam, der für die Mönchsschüler heilsnotwendig ist und die bedingungslose Unterordnung der Schüler unter ihren Meister beinhaltet. Diese Unterordnung führt weg von der Befangenheit des eigenen Ichs und aller negativen Eigenschaften, die in der »Klimax« ausführlich abgehandelt werden, und führt hin zur wahren Freiheit, zum wahren Gebet, zur Fähigkeit der Unterscheidung der Geister, zur Verklärung, die mit Lichterscheinungen verbunden sein kann, und letztlich zur Leidenschaftslosigkeit. Der Gehorsam vermittelt dem Mönch Trittsicherheit auf der Leiter zum Paradies und Resistenzkraft gegen die Versuchungen der Teufel, die – wie auf den Ikonen und Fresken dargestellt – die sich auf der Leiter Befindlichen in die Hölle hinabzuziehen versuchen.
Von sehr großem Interesse sind die Vergleiche des Gehorsamskonzepts des Klimakus mit den entsprechenden Grundgedanken des ersten Klostergründers Pachomius, des Kirchenvaters Basilius und besonders der Sprüche der Wüstenväter (Apophthegmata patrum), die M. in einem ausführlichen Kapitel seiner Arbeit zieht. Ein weiteres Kapitel enthält eine Skizze der Wirkungsgeschichte der »Klimax«. Diese ist beträchtlich und könnte Thema einer ganzen Abhandlung sein, wie nicht nur zahlreiche Fresken und Ikonen zeigen, sondern auch Übersetzungen des Werkes in Fremdsprachen, von denen als Ergänzung die Übersetzung ins Russische (Prepodobnogo otca na sˇego Ioanna igumena Sinajskoj gory Lestvica, v russkom perevode, Sergiev posad 19087, Nachdruck Jordanville 1963) genannt sei, die mit Einleitung, Kommentaren und Registern versehen ist.
Die historisch-analytische Arbeit von M. vermittelt eine sehr differenzierte und facettenreiche Interpretation dieses Hauptwerkes monastischer Spiritualität vor allem unter den Gesichtspunkten von Autorität und Gehorsam. Diese Gesichtspunkte sind in westlichen Interpretationen häufig zu kurz gekommen, stellen aber zentrale Elemente des geistlichen Aufstieges im Verständnis der orthodoxen Theologie dar, wie M. überzeugend zeigt. Die Arbeit ist klar strukturiert und durchgeführt, nimmt die bisherige Forschung ausgiebig und kritisch auf, weist auf viele, auch verborgene historische Zusammenhänge hin und berücksichtigt auch die Einsichten sozialgeschichtlicher, archäologischer und kunstgeschichtlicher Forschungen. Für vertiefende Studien sehr wertvoll sind die ausführlichen Register, insbesondere das Stellenregister, das nicht nur die behandelten Stellen der »Klimax«, sondern auch der andern herangezogenen Werke, so der Apophthegmata patrum und der Schriften der Kirchenväter, enthält.