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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

260–262

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weaver, John B.

Titel/Untertitel:

Plots of Epiphany. Prison-Escape in Acts of the Apostle.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. XII, 335 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 131. Lw. EUR 88,00. ISBN 3-11-018266-1.

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Mit dieser umfangreichen Studie zu einem wichtigen Aspekt des kulturellen Hintergrundes der Apostelgeschichte hat der Autor unter der Ägide von Carl R. Holladay 2004 an der Emory University, Atlanta, promoviert. Gegenstand der Arbeit sind die in Apg 5, 12 und 16 verwendete Tradition der wunderbaren Gefangenenbefreiung, die Bestimmung ihres Ursprungs und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die literarische und theologische Interpretation der Apostelgeschichte.
W.s Untersuchung ist klar gegliedert: Kapitel 1 (1–27) bietet einen instruktiven Forschungsüberblick zu den lukanischen Be­freiungswundern, der sich vor allem mit den Arbeiten von O. Weinreich (1929), R. Pervo (1979) und R. Kratz (1979) befasst. In kritischer Auseinandersetzung damit entwickelt W. einen »myth-critical approach«, der die weitere Untersuchung bestimmt. W. postuliert, dass die Gefangenenbefreiungen in der Apg auf eine antike mythologische Tradition zurückgehen, »involving the imprisonment of a persecuted god/cult, and the subsequent punishment of the im­pris­oning opponent« (22). Das Gerüst (»basic storyline«) dieser als »micromyth« charakterisierten Erzähltradition beschreibt W., z. T. in Anschluss an Pervo, so: »Arrival of New God/Cult Conflict with Impious Rulers(s) Imprisonment Epiphanic Deliver­ance from Prison Death or Repentance of Oppressor Es­tablishment of Cult« (22). Kapitel 2 widmet sich dem Nachweis dieses »Mikromythos« in Texten dionysischen Ursprungs sowie, als Teil von deren Wirkungsgeschichte, in nicht-dionysischen Texten. Damit ist der Boden bereitet für die umfassende Analyse der drei lukanischen Befreiungswunder, die sich erwartungsgemäß ebenfalls als Ausformulierungen jenes Mythos erweisen (Kapitel 3–5; 93–279). Ein abschließendes, knappes Kapitel 6 (281–288) benennt dann u. a. theologische Konsequenzen, die sich aus W.s »mythenkritischer« Analyse der Acta-Texte ergeben.
Den längst beobachteten Zusammenhang zwischen Dionysos-Mythos und lukanischen Befreiungserzählungen deutet W. originellerweise so, dass Lukas diese Tradition nicht (wie noch Weinreich annahm) literarisch vermittelt worden sei (etwa durch Kenntnis der berühmten Szene in Euripides’ Bakchen). Er verdanke sie vielmehr der Teilnahme am Diskurs seiner Zeit, in dem die wunderbare Gefangenenbefreiung zentrales Ereignis einer Kultgründungserzählung von großer kultureller Relevanz gewesen sei. Diese Erzählung werde in den Bakchen ebenso reflektiert wie in zahlreichen anderen antiken Texten, so dass es naheliege, auch die sachlich verwandten Acta-Texte im Zusammenhang dieses Mythos zu lesen.
Trotz der umfassenden Bemühungen W.s, den aus dionysischen Texten rekonstruierten ›Befreiungsmythos‹ bei Lukas nachzuweisen, möchte ich Zweifel anmelden, ob sich dessen oben zitiertes ›pattern‹ bei unvoreingenommener Betrachtung auch nur in einem der drei Acta-Kapitel wiederfinden lässt.
Besonders prekär erscheint mir die Lage im Fall von Apg 5: Das knapp und blass geschilderte Befreiungswunder 5,19 f. ist im Kontext von ganz untergeordneter Bedeutung – schon im anschließenden Verhör der Apostel durch den Hohenpriester findet es keine Erwähnung mehr (5,27 ff.) – und erweckt den Eindruck, kaum mehr als eine redaktionelle Vorwegnahme der Traditionen zu sein, die Lukas in Apg 12 und 16 ausschreibt. Um die Elemente des dionysischen Mythos in Apg 5 dingfest machen zu können, muss W. exegetisch recht gewaltsam verfahren und den gesamten Textkomplex Apg 1–7 (»The Architectonics of Arch ē«, 126–132) in seine Interpretation einbeziehen – nur so kann postuliert werden, dass das Befreiungswunder »contributes to Luke’s broader narration of the god-directed foundation of the Jerusalem church and the official opposition to its expansion« (131). Ähnlich muss W. in Apg 12 die ur­sprünglich selbständigen Traditionen von der Befreiung des Petrus und vom Tod des Herodes Agrippa (als Strafe für seine Apotheose, nicht für die Verfolgung der Apostel!) kunstvoll kombinieren (187–189), um die Struktur des Mythos in die lukanische Textsequenz einzeichnen zu können.
Man wird daher gegenüber W.s Interpretationsvorschlag skeptisch bleiben müssen. Abträglich ist der These vor allem, dass die Gefangenenbefreiung weder in Apg 5 und 12 noch in 16 Kult begründenden Charakter hat: Die Gemeinde in Jerusalem ist durch den vom auferstandenen Christus gesandten Geist gestiftet worden (Apg 1 f.), die in Philippi hat sich längst im Haus der Lydia versammelt (16,15). Die Gefangennahmen der Apostel erscheinen im Kontext der Apg als hilf- und wirkungslose Reaktionen auf die Existenz dieser Gemeinden: Letztere gründen im göttlichen Willen, vor dem die Herren dieser Welt kapitulieren müssen.
Dass sich Lukas bzw. die von ihm verwendete Tradition in Apg 12 und 16 zur literarischen Einkleidung dieses Gedankens dinoysischer Motive bedient, bleibt unbestritten, doch ist die Adaption solcher Motive nicht identisch mit der der Struktur des dionysischen Mythos. Es ist daher nicht überraschend, dass die Acta-Er­zählungen der etwa bei Artapanos (um 100 v. Chr.; dazu W.: 69–78) greifbaren selektiven Rezeption dieses Mythos (dort im Rahmen einer Exoduserzählung) näherstehen als den genuin ›dionysischen‹ Texten. Bekanntschaft mit solchen hellenistisch-jüdischen Texten würde übrigens, ohne Umweg über den kulturellen Dis­kurs der Zeit, ausreichen, um die Verwendung dionysischer Motive in den Acta-Erzählungen plausibel zu erklären.
Ganz unterschätzt wird in W.s Studie, dass das Motiv von Haft und Befreiung im Falle des Petrus vermutlich, in dem des Paulus mit Sicherheit einen historischen Hintergrund besitzt. Der »Gefangene Christi Jesu« (vgl. Phlm 1.9) ist primär keine mythische Figur, sondern reflektiert reale Hafterfahrungen der Apostel, von denen Lukas Kenntnis hatte. Erst in der legendarischen Transformation dieser Episoden wird das historische Stratum von volkstümlich-my­thischen Erzählelementen überwuchert – wie viele davon be­reits auf das Konto vorlukanischer Überlieferung zu setzen sind, bleibt ebenfalls eine ernsthaft zu diskutierende Frage.
Im Vergleich zur ebenso gründlichen wie anregenden Interpretation der lukanischen Befreiungswunder vor dem Hintergrund des Dionysos-Mythos wirkt W.s Beitrag zur lukanischen Theologie unscheinbar und wenig überzeugend. Wie bei anderen Arbeiten, die sich auf Segmente einer biblischen Schrift konzentrieren, ist auch hier die Neigung spürbar, diesen Abschnitten eine überragende Bedeutung einzuschreiben, die sie bei nüchterner Würdigung des Gesamttextes schwerlich besitzen. Wenn W. in seinen »Conclusions« von einer »theology of the prison-escapes« spricht, in der sich die »theologies of the cross and the empty tomb« verbinden (285), werden die von Lukas zur Charakterisierung der christlichen Frühzeit verarbeiteten Traditionen massiv überfrachtet: Kreuz und Auferstehung markieren bei Lukas eschatologische Ereignisse, die den Lauf der Welt in eine neue, rettende Richtung lenken, »pri­s­on escapes« sind dagegen trotz ihrer Bedeutung als göttliche Legitimation der christlichen Verkündigung Temporalia. Beide Teile des lukanischen Doppelwerks laufen auf die Todeshaft ihrer zentralen Protagonisten hinaus, aus der kein Befreiungswunder mit aufschiebender Wirkung rettet, sondern nur eine zu unverlierbarem Leben verhelfende Tat Gottes.