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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

250

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Voegelin, Eric

Titel/Untertitel:

Ordnung und Geschichte. Hrsg. v. P. J. Opitz u. D. Herz. Bd. II: Israel und die Offenbarung. Die Geburt der Geschichte. Hrsg. v. F. Hartenstein u. J. Jeremias. Aus d. Engl. v. U. Uchegbu, N. Winkler u. F. Hartenstein.

Verlag:

München: Fink 2005. 318 S. 8° = Periagoge. Lw. EUR 34,90. ISBN 3-7705-3702-5.

Rezensent:

Bernd Janowski

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Hrsg. v. P. J. Opitz u. D. Herz. Bd. III: Israel und die Offenbarung. Mose und die Propheten. Hrsg. v. F. Hartenstein u. J. Jeremias. Aus d. Engl. v. U. Uchegbu u. N. Winkler. München: Fink 2005. 217 S. 8° = Periagoge. Lw. EUR 25,90. ISBN 3-7705-3703-3.


»Der große Schwierige« – so titelte im September 2002 die Wochenzeitung DIE ZEIT aus Anlass des Erscheinens der ersten Bände des Opus magnum »Ordnung und Geschichte« (Order and History) von Eric Voegelin. Diese Charakterisierung, die auf seinen Münchener Kollegen Hans Maier zurückgeht – er nannte V. den »großen Schwierigen zwischen den Fronten« –, trifft den bedeutenden, 1901 in Köln geborenen, ab 1909 in Wien aufgewachsenen und 1985 in Palo Alto/Kalifornien gestorbenen Politikwissenschaftler und Universalhistoriker ziemlich genau. Schon seine Vita belegt dies auf eindrückliche Weise. Nach dem Studium in Wien und Forschungsaufenthalten in den USA und Frankreich unterrichtete V. seit 1928 in Wien Gesellschaftslehre und allgemeine Staatslehre, bevor er 1938 in die Vereinigten Staaten floh und dort an mehreren Universitäten lehrte. Hier entstanden auch die ersten Bände von Order and History (1956/57), die seinen Ruf als einen der bedeutendsten politischen Philosophen des 20. Jh.s begründeten. 1958 nahm er einen Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität München an, wo er das Institut für Politische Wissenschaft aufbaute und damit zur Gründergeneration dieses Fachs in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg gehörte. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1968 kehrte V. in die USA zurück und setzte seine Studien bis zu seinem Tod in Stanford/Kalifornien als Senior Research Fellow fort. Sein umfangreiches und thematisch weitgestreutes Œuvre wird u. a. von dem 1990 am Geschwister-Scholl-Institut der LMU gegründeten Eric-Voegelin-Archiv ge­pflegt und der scientific community endlich zugänglich gemacht.
Im Zentrum seines auf zehn Bände angelegten und von P. J. Opitz und D. Herz im W. Fink-Verlag herausgegebenen Werks »Ordnung und Geschichte« – begonnen 2001 und abgeschlossen 2005 – steht die Frage nach der Ordnung der menschlichen Existenz in Geschichte und Gesellschaft, also die Frage danach, wie die gesellschaftliche Ordnung in die Geschichte kommt. Aufschlussreich dafür sind die ersten Sätze des Vorworts zu Bd. I, die ein ganzes Forschungsprogramm umreißen: »Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung. Jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, unter den ihr gegebenen Verhältnissen eine Ordnung zu schaffen, die der Tatsache ihrer Existenz im Hinblick auf göttliche und menschliche Ziele Sinn verleiht; und die Versuche, die symbolischen Formen zu finden, die diesen Sinn adäquat ausdrücken, sind zwar unvollkommen, bilden aber keineswegs eine sinnlose Kette von Fehlschlägen. Denn beginnend mit den Kulturen des Alten Orients haben die großen Gesellschaften eine Abfolge von Ordnungen hervorgebracht, die sinnvoll miteinander verknüpft sind als Annäherungen an oder Abweichungen von einer adäquaten Symbolisierung der Wahrheit in Bezug auf die Ordnung des Seins, von der die Ordnung der Gesellschaft ein Teil ist« (Bd. I: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten, München 2002, 27). Die Ordnung der Gesellschaft(en) als Teil und Abbild der Ordnung des Seins – zu diesem Axiom finden sich in V.s Hauptwerk hochinteressante, weil historisch und philosophisch gesättigte Analysen, die K. Jaspers’ Konzept der ›Achsenzeit‹ vergleichbar, diesem in materialer wie auch theoretischer Hinsicht aber überlegen sind. Das Spektrum seiner vergleichenden Zivilisationsstudien reicht dabei von den »kosmologischen Reichen des Alten Orients« bis in die Gegenwart und umfasst Mesopotamien und Ägypten (Bd. I, herausgegeben und kommentiert von J. Assmann, 17–23.172 f.213–224, mit einem brillanten Essay von P. Machinist, 177–212, und einer detaillierten werkgeschichtlichen Einführung von P. J. Opitz, 225–286), Israel (Bd. II–III), Griechenland (Bd. IV–VII), das »Ökumenische Zeitalter« (Bd. VIII–IX) und schließt mit dem Band »Auf der Suche nach Ordnung« (Bd. X) ab, in dem V. nach Auskunft seiner Frau Lissy Voegelin den »Schlüssel zu all seinen anderen Werken« (Vorwort zu Bd. X, München 2004, 17) gesehen hat. Die Ordnung der Geschichte ereignet sich nach V. als ein langer Prozess, der die anfängliche »Kompaktheit« (vgl. Bd. I, 43f.104 f.131 f.; Bd. II, 11 f. u. ö.) des Seins aufbrechend zu immer weiter ausdifferenzierten Weltdeutungen voranschreitet, in denen die Begriffe »Mensch«, »Gesellschaft« und »Geschichte« immer reflektierter in Erscheinung treten.
Diese biographischen und werkgeschichtlichen Bemerkungen mögen den Kontext beleuchten, in den die beiden hier anzuzeigenden Bände gehören. In ihnen geht es um die revelatorischen Erfahrungen des alten Israel und damit um das Grundproblem der conditio humana, wie es in seinem spezifischen Ordnungsverständnis zum Ausdruck kommt. »Ohne Israel hätte es keine Geschichte gegeben, sondern nur die ewige Wiederkehr von Gesellschaften in kosmologischer Form« – so die Hauptthese von Bd. II (»Israel und die Offenbarung Die Geburt der Geschichte«, 43). Im Unterschied zu den auf Homologie von Kosmos und Geschichte/Gesellschaft ausgerichteten religiösen Symbolsystemen des Alten Orients zeichnet sich Israel durch einen kognitiven »Seinssprung« (vgl. Bd. I, 83 f.) aus, der durch die Dornbuschszene, das Exodusereignis und die Sinaioffenbarung nachhaltig markiert wird. Damit wird von Israel die Transzendenz des weltüberlegenen Gottes entdeckt, die einen Bruch mit dem kosmologischen Mythos bedeutet und einen neuen Schritt im Verständnis von Zeit und Geschichte und der menschlichen Existenz einleitet. Diese neue Form des Bewusstseins wird, wie Bd. III (»Israel und die Offenbarung. Mose und die Propheten«) ausführt, von Mose und den Propheten in die Welt getragen, die jetzt etwas bewusst machen, wovon der Mythos nur indirekt erzählte: die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz. Das Ausmaß dieses Neuen lässt sich beispielhaft am Dekalog studieren (Bd. III, 94 ff.), der einerseits die soziale Existenz Israels begründet und ordnet und der andererseits den Bezug zum transzendenten Gott einschärft. Die Bearbeitung dieser Spannung ist das große Thema der Propheten, die nicht müde werden, auf den eklatanten Widerspruch zwischen der geoffenbarten Ordnung Gottes und der realen menschlichen Unordnung hinzuweisen – und oft genug daran scheitern. Dennoch haben sie damit einen Maßstab formuliert, der für die abendländische Geistes- und Zivilisationsgeschichte paradigmatisch gewesen ist.
Es war eine vorzügliche Idee der Hauptherausgeber Opitz und Herz, die Herausgabe und Kommentierung der Einzelbände ausgewiesenen Fachkennern anzuvertrauen. Dass für die Israelbände F. Hartenstein und J. Jeremias gewonnen werden konnten, darf als ein ausgesprochener Glücksfall bezeichnet werden. Beide sind nicht nur mit den Grund- und Detailfragen der alttestamentlichen Wissenschaft engstens vertraut, sie bringen auch den religions-, kultur- und theoriegeschichtlichen Horizont mit, der für die Bewältigung dieser Aufgabe erforderlich war. Sie haben sich das Terrain so aufgeteilt, dass sie gemeinsam eine thematische Einführung in beide Teilbände (Bd. II, 11–16) und ein ausführliches Nachwort verfasst haben (Bd. III, 205–217), das das Werk im Licht der gegenwärtigen Exegese des Alten Testaments würdigt. Darüber hinaus finden sich Anmerkungen zu philologischen, textkritischen und sachlichen Problemen von F. Hartenstein zu Bd. II (310–318) und von J. Jeremias zu Bd. III (203 f.). Beide Bände enthalten zusätzlich ein Namen- und Sachregister.
Was V. mit seinem geschichtshermeneutischen Konzept bietet, ist keine leichte Kost. So unkonventionell wie V. Zeit seines Lebens war – er ließ sich nie irgendeiner Schule oder Wissenschaftstradition zuordnen –, so ist es auch sein Werk. Aber es ist höchste Zeit, dass sich die alttestamentliche Wissenschaft mit diesem, von ihr bisher nicht beachteten, Entwurf kritisch auseinandersetzt, um in den geschichts- und kulturtheoretischen Debatten der Gegenwart nicht den Anschluss zu verlieren. Das mag angesichts der Tatsache, dass die Israelstudie bereits vor 50 Jahren in Nordamerika erschien, ein wenig erstaunen. Aber die Aufhebung der Wahrnehmungsblockade gegenüber dem Autor Voegelin ist eben noch nicht allzu lange her. Die Frage nach dem Ertrag von V.s Israelstudie für die Gegenwart beantworten die beiden Herausgeber jedenfalls mit einem Hinweis, dem man nur zustimmen kann:
»So läßt sich erstens ohne den Begriff der Offenbarung, wie ihn Voegelin anhand des alten Israel herausarbeitet, weder verstehen, was Geschichte im abendländischen Verständnis ausmacht, noch warum diese zuletzt nicht vom Mythos getrennt werden kann, wohl aber von ihm unterschieden werden muß. ... Daneben fordert die Israelstudie Voegelins zweitens in der derzeitigen Diskussion um die Unhintergehbarkeit, aber auch Ambivalenz der religiösen Dimension kultureller Identität zur Auseinandersetzung heraus. ... Es ist hier vor allem die Betonung der nicht aufzuhebenden Zweideutigkeit von Offenbarung und ihren Folgen, die Voegelins Untersuchung sowohl für eine Hermeneutik der Kulturen wie für eine Ethik interkultureller Verständigung wertvoll macht« (Bd. II, 15 f., vgl. auch das gehaltvolle Nachwort in Bd. III, 205 ff.).