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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

213–215

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zippert, Thomas

Titel/Untertitel:

Notfallseelsorge. Grundlegungen – Orientierungen – Erfahrungen.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006. 272 S. 8° = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 25. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-8253-5130-4.

Rezensent:

Jürgen Ziemer

In kurzer Zeit hat sich seit Anfang der 90er Jahre die Notfallseelsorge als ein neuer Arbeitszweig pastoralen Handelns etabliert. Sie ist heute aus dem kirchlichen Angebot für die Zivilgesellschaft nicht mehr wegzudenken. Zu ihren Protagonisten gehört der Autor. Als ausgebildeter Feuerwehrmann und als praktizierender Notfallseelsorger kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven die Praxis des Rettungswesens und weiß um seine Chancen wie um seine Aporien. Als Systematischer Theologe verfügt er über genügend reflexive Kraft, um einzelne Probleme, die sich in diesem Dienst zwangsläufig ergeben, auf den Begriff zu bringen und möglichst stringent und zielgerichtet zu verfolgen.
In dem Buch hat Z. seine wichtigsten Beiträge zur Notfallseelsorge aus den Jahren 1999–2006 zusammengestellt. Viele dieser Aufsätze waren an ihren bisherigen Publikationsorten nur Spezia­listen vertraut, nun stehen sie für die breitere Diskussion zur Verfügung. Es handelt sich dabei publizistisch gesehen um sehr un­terschiedliche Genera, vom wissenschaftlichen Aufsatz bis zur liturgischen Praxishilfe. Dementsprechend differiert auch der Schwierigkeitsgrad. Zwei der gewichtigsten Beiträge sind Lehrern von Z. (Wolfgang Steck, Eilert Herms) gewidmet. Stets ist der Bezug zum Hauptthema gegeben. Die dennoch wahrnehmbare Heterogenität der Beiträge entspricht ganz gut einem Arbeitszweig, der sich noch in seiner Konsolidierungsphase befindet, wie sie Z. in der konzentrierten Einleitung zur »gegenwärtigen Situation der Notfallseelsorge« selbst beschreibt. Mit Wiederholungen und Überschneidungen muss man bei einem derartigen Buchkonzept rechnen. Das wird nur wenige Leser wirklich stören, da die meisten unter den Beiträgen das auswählen werden, was sie interessiert.
Vier Kapitelüberschriften werden die einzelnen Beiträge zugeordnet: »Theologische Grundlegung«, »Interdisziplinäre Orientierung«, »Folgen für die Seelsorgetheorie«, »Konkrete Erfahrungen – konkretes Handeln«.
Der erste theologische Beitrag unter dem Thema »Spiritualität und Theologie in der Notfallseelsorge« (16 ff.) verdient besondere Aufmerksamkeit. Z. geht davon aus, dass »Gefahr und Chance der Notfallseelsorge ganz eng beieinander liegen«, nämlich entweder: »Teil eines Systems zu werden, das sich im Bekämpfen von Leiden erschöpft«, oder: »auf eine andere Dimension aufmerksam zu machen, die immer wieder aus dem Blick gerät«. Demgegenüber betont er mit aller Deutlichkeit, dass es hier keineswegs um ein Entweder – Oder gehen dürfe, sondern um die Spannung von beidem: sowohl um eine »Spiritualität der Tat« wie um eine »Spiritualität des Leidens« (19). Notfallseelsorge unterstütze rettendes Handeln tatkräftig, aber sie helfe auch, mit dem Unausweichlichen umzugehen, mit dem Leiden, das aus der Endlichkeit oder menschlicher Schuld resultiert. Sie führe so als Praxis christlicher Spiritualität auf einen »spannungsvollen, vielschichtigen, bisweilen widersprüchlichen Weg der Gotteserfahrung« (29). Es ist typisch für viele Beiträge des Buches, dass solche Tiefgänge dann für die Praxis im konkreten Notfalleinsatz fruchtbar gemacht werden – bis in die Einzelheiten der zu erwartenden Abläufe hinein (29–32). So sehr ich Z. generell zustimme, wenn es um den Beistand geht, der in der aktuellen Situation gefordert ist, so möchte ich doch auch fragen, ob es nicht jenseits einer Spiritualität der »Tat« und des »Leidens« eine Spiritualität des prophetischen Protests geben müsste, mit der jene gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten namhaft ge­macht werden, die viele Lebensrisiken und Unglücksfälle erst be­dingen (vgl. dazu Michael Klessmann in WzM 58 [2006], 94–107).
Unter den interdisziplinären Studien sei der Aufsatz zur Psy­chotraumatologie (»Traumatische Wahrheiten«, 102 ff.) hervor­gehoben. Die sehr hilfreichen Informationen und Durchblicke werden am Schluss des Buches durch übersichtliche Folientexte sinnvoll ergänzt. Die Ausdrucksformen einer »posttraumatischen Belastungsstörung« werden ebenso kompetent in ihrer ganzen Komplexität beschrieben (111 ff.) wie Traumatherapie und Kri­sen­intervention (119 f.). Theologisch interpretiert Z. das Krankheitsbild der posttraumatischen Störung als »Erschütterung von Selbst- und Weltgewissheit« (122). An früherer Stelle hatte er schon darauf hingewiesen, dass dieses »alle Dimensionen umfassende Krankheitsbild« »neue Möglichkeiten des Gesprächs zwischen Seelsorge, Medizin, Psychologie und Biologie« (93) eröffne. Diesem Hinweis sorgfältig nachzugehen, könnte nicht nur für Notfallseelsorge, sondern für die Seelsorgelehre generell sehr sinnvoll und ratsam sein.
In diese Richtung zielt der dritte Hauptabschnitt des Buches. Freilich kommt das Gespräch – beispielsweise mit einer pastoralpsychologisch ausgerichteten Seelsorgelehre – dann doch nicht recht in Gang. Gerade bei der Macht-Ohnmacht-Relation, die Z. hier differenziert, freilich akzentuiert kognitiv behandelt, bieten sich mehrfach Bezüge an. In der Praxis von Aus- und Weiterbildung haben sich ja längst hoffnungsvolle Kooperationen gebildet. Es bleibt zu wünschen, dass das Schule macht.
Im Praxisteil liest man mit Spannung den Aufsatz »Beten wir zum selben Gott?« (184 ff.), in dem es um Notfallseelsorge in multireligiösen Kontexten geht. Das Thema ist für Krankenhaus- oder Gefängnisseelsorger- und -seelsorgerinnen nicht weniger relevant. Z.s Erwägungen sind außerordentlich hilfreich, er vermeidet es, normativ zu reden. Dem gemeinsamen Gebet steht er nicht ablehnend, aber skeptisch gegenüber, möchte Fremdes nicht überspielen und versteht sich in der konkreten Situation als »Religionsvermittler«, der dafür Sorge trägt, »dass Betroffene vertraute eigene Ressourcen … entdecken … und nutzen können« (200). Ein solcher Ansatz erscheint klar und realistisch, er ist zugleich offen für ein Mehr an Gemeinsamkeit, als es gegenwärtig noch möglich erscheint. Es ist nicht möglich, alle 17 Beiträge hier auch nur zu nennen. Hingewiesen sei wenigstens noch auf den anregenden Beitrag über die »Kriegskinder« (250 ff.), auch wenn der nur mittelbar zum Thema dieses Buches gehört.
Z. hat einen wichtigen Beitrag zur theologischen Fundierung der Notfallseelsorge geleistet. Die Lektüre verspricht reichen Ge­winn, auch wenn man gelegentlich anderer Meinung ist als Z. Viele der Aufsätze sind mit reichen und interessanten Literaturhinweisen versehen, eine gegliederte Bibliographie am Schluss des Bandes inspiriert zusätzlich zu eigener Weiterarbeit.