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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

208–209

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mildenberger, Irene, u. Wolfgang Ratzmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jenseits der Agende. Reflexion und Dokumentation alternativer Gottesdienste.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 232 S. 8° = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 10. Kart. EUR 16,80. ISBN 3-374-02059-3.

Rezensent:

Thomas Hirsch-Hüffell

Das Buch sammelt Fundstücke in einer fast nicht zu überschauenden Landschaft von sog. alternativen Gottesdiensten im deutschsprachigen Raum und versucht sie – in aller Vorläufigkeit – zu sichten. Erste Deutungsversuche beziehen sich auf Modelle, weniger aufs Ganze.
Zuerst erhalten wir Überblicke: Grethlein nimmt als Umfeld für die Kultur des ›2. Programms‹ Pluralismus, Raum-Zeit-Flexibilität, Tendenz zur Aufhebung der parochialen Gebundenheit in Raum und Zeit wahr. Er kritisiert die Agendenreform im Gottesdienstbuch als zu innerkirchlich, weist auf die Chancen von Kasual- und Kindergottesdienst mit mehr biographisch orientierter zweiseitiger Beteiligung hin, rät anbei den Christusbezug nicht zu verlieren. Nagel, Katholik, verweist auf die junge Tradition häufiger Eucharistiefeier im Katholizismus, auf die Wiederentdeckung des Wortes und der Tagzeitenfeiern. Interessant ist in seinem Kontext das ›Stadtgebet‹ Schwerte, das wie ein katholisches Forum der städtischen Themen fungiert. Zudem betont er die Chancen des Kasualgottesdienstes und die missionarische Kraft der sorgfältig ›ausgelebten‹ Traditionsriten. Ruddat gibt eine kurze Geschichte der alternativen Gottesdienstbemühungen seit den 60ern bis heute mit den Stichworten Vielfalt, Fest, 2. Programm, Abendmahl, Spielraum Gottesdienst. Der Hinweis auf die Ausdifferenzierung der Typen von Gottesdienst am Sonntag zeigt aber auch, wie sich das ›normale‹ 1. Programm bewegt.
Der breiter angelegte 2. Teil enthält Konkretionen: Bracks und Kunz erzählen konkret und reflektieren die Senfkorn-Gottesdiens­te in Heilsbronn von ihren Kriterien her: schön, nachvollziehbar, verständlich, wertschätzend, wesentlich, musikalisch, gemeinsam, sinnliche Liturgie, liebevoll, erwartungsvoll, hoffnungsvoll, willkommen.
Vogt berichtet in bewährter, aber auch bekannter Weise über das Konzept von Go Special. Friedrichs untersucht Go Special unter kultursoziologischen Aspekten – wer kommt wirklich, werden tatsächlich Kirchendistanzierte erreicht usw.? ›Auf der Schwelle (zwischen Kirche und Alltags-Kultur) feiern‹ erweist sich für ihn als Bild für neue Heimat im Gottesdienst Go Special und in gewisser Weise auch für alle alternativen Gottesdienste. Horn schildert ein ähnliches Gottesdienst-Modell mit dem Namen ›Go-life‹. Ma­semann erzählt von seinen alternativen Gottesdiensten auf dem Lande in Westdeutschland. Seine Kriterien u. a.: farbig, fröhlich, feierlich – und manchmal auch frech. Segnung, Interaktion, regionaler Zuschnitt sind Elemente des Konzepts. Zimmer berichtet von den schon fast klassischen Nachteulen-Gottesdiensten in Stuttgart. Hauptelemente sind dabei: Liturgie (auch in Form von Übungen), Reden vom Leben (Weisheitspredigt), Musik und Gesang. Grundlage sind Daseinsinteresse, Da­seinsgewissheit, Daseinsgestaltung. Sturm schildert die Thomasmesse und Famos die Übernahme der Thomasmesse in der Schweiz.
Zum Schluss führt uns Ratzmann durch alle aufgeführten Beiträge unter dem Aspekt, ob diese Gottesdienst-Kultur eine ›Annäherung an das Heilige‹ sein will und wenn ja, wie das jeweils geschieht. R. enthält sich möglicher Wertungen, er schildert und wiederholt zusammenfassend die genannten Aspekte.
Das Buch gibt einen sinnigen Querschnitt durch die unübersichtliche Kultur dieser Gottesdienste. Ihre Geschichte ist noch jung, daher schwer zu deuten. Ihnen gemeinsam ist: Sie kehren sich meist deutlich ab von allzu kirchlich Selbstverständlichem, sie werben neu um das Christliche, nähern sich an mit vielen Elementen der weltlichen Kultur und wollen damit eine Brücke schlagen zum ›normalen‹ Leben. Sie setzen implizit voraus, dass Menschen keine geprägte Gotteserfahrung mitbringen, sondern diese erst im Gottesdienst suchen und finden wollen. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zum regelmäßigen Typus des Sonntagsgot­tesdienstes, der ja immer wieder bereits vorhandene Glaubenserfahrung rezitiert und versichert. Einige alternative Gottesdienst-gemeinden haben nach ca. 20 Jahren Aufwand mit den immer neu konzipierten Themen-Gottesdiensten bereits für sich selbst zu einer kleinen abgespeckten und schlichten Wiederholungsform gefunden, die sie nicht je neu erfinden müssen, gewissermaßen als Erholungsort.
Das ist eine spannende Entwicklung und zeigt vielleicht Kirchengeschichte im Kleinstformat: vom Anfangs-Chris­tentum mit viel Aufwand hin zum Gewohnheits-Christentum. Die Elemente im Buch wiederholen sich zum Teil, es fehlen Erfahrungen vom Land im Osten Deutschlands – und das ist weiträumig, in allem Abbruch belebt und wartet auf Impulse. Die Zurück­haltung beim Deuten ist Stärke, aber auch Schwäche. Eine Gesamtschau ist in­zwischen möglich, es gibt genug Gemeinsames in dieser Szene, das sich bewerten ließe. Wer verstehen will, braucht mehr zugreifende Thesen zum Phänomen. Aber wer einen sorgfältigen Längsschnitt durch die Kultur des zweiten Programms sucht, findet hier, was er braucht.