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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1026–1028

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kowalski, Beate

Titel/Untertitel:

Die Hirtenrede (Joh. 10,1–18) im Kontext des Johannesevangeliums.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1996. V, 378 S. 8° = Stuttgarter Biblische Beiträge, 31. Kart. DM 89,­. ISBN 3-460-00311-1.

Rezensent:

Jens-W. Taeger

"Die Hirtenrede Joh 10,1-18 kann m. E. nun nicht mehr als Einschub der kirchlichen Redaktion angesehen werden, da die schwierige kompositorische Stellung und die theologischen Aussagen kontextuell erklärt werden können" (338). Dieser Schlußsatz der Untersuchung (eine Bochumer, von P. Dschulnigg betreute Dissertation) liest sich wie eine direkte Entgegnung auf die Sicht des Kommentators J. Becker (Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1, 31991, 366). Wenn die Vfn. für die Interpretation gerade des Joh vom "Primat der Synchronie vor der Diachronie" (88.90.335) ausgeht und unter dieser Perspektive nach der Einheitlichkeit und Einbindung der Hirtenrede (= HR) in den näheren wie weiteren Kontext des Evangeliums fragt (33 u. ö.), folgt sie einem Forschungstrend, der in der Einleitung (1-36) unter besonderer Berücksichtigung der neueren Arbeiten zur HR dokumentiert wird. Kritische "Zurückhaltung gegenüber allen Methoden, die zu unsicheren Ergebnissen führen" (5, Anm. 15), und eine "verfeinerte Analyse" (30) sollen helfen, Antworten auf einige bislang offene Fragen zu finden.

Als Ergebnis der Textkritik (nicht nur zu V. 7b.8a) in Kap. 1 (37-50) wird der Text von N-A27 unverändert übernommen (und nicht ohne Akzentversehen noch einmal abgeschrieben). In der literarkritischen Analyse der HR (Kap. 2: 51-91) stützt sich die Vfn. auf eine Untersuchung zur sprachlichen Einbindung der Rede in den Kontext des Joh (sieht man von den dem Motivfeld "Hirt" zuzuordnenden ab, finden sich "nur" 8 [nicht ­ wie S. 64 zu lesen ­ 9] theologisch und inhaltlich relevante Begriffe allein in der HR). In eher pauschaler Auseinandersetzung mit verschiedenen literarkritischen Lösungsmodellen und im Anschluß an die die Einheit des Evangeliums behauptenden stilkritischen Untersuchungen (besonders die von Ruckstuhl/ Dschulnigg, durch die z. B. J. Beckers Literarkritik "widerlegt" sei [70]) kommt die Vfn. für die HR zu dem Schluß, daß diese "vom näheren Kontext zwar graduell, nicht aber grundsätzlich abweicht und ... vom Endverfasser sprachlich mitgeprägt ist. Für die Hirtenrede in ihrer Endgestalt ist ein einziger Verfasser anzunehmen" (90). Damit soll die Verwendung von Traditionen und Quellen nicht ausgeschlossen sein, doch lassen sich solche Vorlagen nur hypothetisch rekonstruieren, weshalb die Vfn. darauf verzichtet. Dem Aufweis der Textkohärenz und damit der Bestätigung des zuvor Erarbeiteten dient im 3. Kap. die formkritische Analyse (92-151). Die explizierende Rede (V. 7b-18) nehme zwar nicht alle Aspekte der Paroimia (V. 1-5) auf und führe eine Reihe neuer Motive ein, aber die HR insgesamt und ihre einzelnen Einheiten seien höchst kunstvoll strukturiert, die verwendeten (typisch joh) kohärenzstiftenden Stilelemente deuteten auf einen geschulten, didaktisch geschickten Gestalter. Als Ertrag der in einem Exkurs (141-149) behandelten Diskussion um die Gattung der (ganzen) HR bleibt für die Vfn. festzuhalten: Der Autor hat Vorgaben derart weiterentwickelt, "daß eine in gewissem Sinne einmalige Form entstanden ist, die sich gattungskritisch nicht leicht einordnen läßt. Im Blick auf die inhaltliche Zielsetzung der Hirtenrede könnte sie mit ’christologisch-ekklesiologische Reflexionen’ umschrieben werden" (151).

Mit der literar- und formkritischen Analyse ist die Basis gelegt für die Interpretation der HR im Kontext des Joh (Kap. 4: 152-282). In einem ersten Schritt dient die historische Situation der joh Gemeinde(n), die die Vfn. in modifizierendem Anschluß an K. Wengst als Krisensituation bestimmt, "als hermeneutischer Schlüssel" (152.154), der das Joh als "Zwei-Ebenen-Drama" erschließt: Die Situation zur Abfassungszeit der Schrift (Ende des 1. Jh.s) werde zurückprojiziert in die erzählte Zeit Jesu. Entsprechendes gelte für die HR. Jeweils die beiden Ebenen bedenkend, spürt die Vfn. in einem zweiten Schritt der Einbindung der HR in den näheren (die Konflikte um die Wunderheilung [9,1-41] werden auf einer metaphorischen Ebene weitergeführt) und weiteren Kontext nach (Interpretation der Motive der HR im Rahmen des Joh; Problematik der Deutung der Kontrastfiguren). Erneut erweise sich, daß die HR keinen Fremdkörper im Joh bilde. Auf der Metaebene wende sie sich an Zweifler und Unentschlossene in der Gemeinde (auch an Gemeindeleiter: Mietling), greife den Grundkonflikt des Joh (Annahme ­ Ablehnung) auf, stelle dem Ideal der Gemeinde (V. 1-5) die Wirklichkeit gegenüber (V. 7-16) und rufe zur Entscheidung für den Hirten Jesus.

Des weiteren werden die ekklesiologischen Aspekte der HR im Zusammenhang der (synchron erhobenen) Ekklesiologie des Joh in ihrer christologischen, pneumatischen, vertikalen und horizontalen Dimension thematisiert, unter besonderer Berücksichtigung von 15,1-17 und 21, 15-17. Die Rede spiegele die umfassende, durch äußere und innere Gefährdungen hervorgerufene Krise der joh Gemeinde(n) wider, biete aber auch ein Lösungsmodell an: Christus als Orientierungsmitte.

Das 5. Kap. nimmt noch einmal die Funktion der HR im Makrokontext (283-334) in den Blick. Im kritischen Gespräch mit neueren, insbesondere der Dramentheorie verpflichteten Entwürfen festigt sich zunächst für die Vfn. der Eindruck, daß Joh eine kompositionelle Einheit darstellt, doch möchte sie das Werk, das unverkennbar dramatische Züge enthalte, "gesamthaft nicht als Drama" (309) kennzeichnen. Sodann legt die Vfn. einen eigenen Gliederungsversuch vor (bestimmend ist die Zahl 7): 1,1-18 als Prolog; (I) 1,19-2,12; (II) 2,13-4,54; (III) 5,1-6,71; (IV) 7,1-10,42; (V) 11,1-12,50; (VI) 13,1-17,26; (VII) 18,1-20,29(30 f.); 21,1-23 (24 f.) als ekklesiologische Summe. Innerhalb dieser Struktur komme der HR (verbunden mit 9,1-41) hinsichtlich der in Joh 1-8 geschilderten Reaktionen auf Jesus und seine Nachfolger eine zusammenfassende Funktion zu (die HR als "das erste kollektive Bild der joh Gemeinde im Joh" [332]), zugleich eine vorausschauende (Tod und Auferstehung Jesu werden erstmals ausdrücklich in Worte gefaßt [vgl. dann 11,1-44]; Motiv der Hirtensorge Jesu für die Seinen). Diese sinnvolle Kontexteinbindung deute nicht auf eine sekundäre Einfügung. Schlußthesen (335-338) bündeln die Ergebnisse inhaltlich und methodenkritisch; angefügt sind eine Tabelle und Schaubilder.

Die Vfn. stellt eine mögliche "Lesart" der HR im Gefüge des vorliegenden Joh vor. Aber läßt sich so das eingangs zitierte Ergebnis sichern? Kaum; denn das, was die Vfn. synchron analysiert und interpretiert, die Endgestalt des Textes, könnte doch ebenso das "durchdacht und sinnvoll" (333) gestaltete und deshalb mit allen etwaigen Einschüben durchaus auch kontextuell erklärbare Werk einer nachträglichen Redaktion sein. Auf welche Hand (die von K. zugestandenen) "Brüche und Spannungen im Text" (58 u. ö.) zurückgehen, wer für die "Endredaktion" und "Zusätze" (91) verantwortlich ist, kann gegen literarkritische Modelle (und zugunsten der Annahme eines Autors, der "sein Ev vermutlich in mehreren Schritten verfaßt" hat [91]) m.E. weder durch sprach- und stilkritische Untersuchungen noch durch das Aufspüren vermeintlich höchst kunstvoller Strukturen eindeutig entschieden werden, solange nicht die von anderen behaupteten Divergenzen in theologischen Sachaussagen hinlänglich bedacht ­ und die JohBr für die joh Gemeinde- und Theologiegeschichte ausgewertet ­ werden. (Nicht zufällig schreiben einige Ausleger Textpassagen, die die Vfn. zur Interpretation der HR im Kontext heranzieht [z. B. 1,29b; 15,1-17; 21,15-17], einer Redaktionsschicht zu.)

Auch nach dieser Arbeit (die vor ihrer Veröffentlichung leider keine straffende redaktionelle Bearbeitung erfahren hat) wird man bei der Suche nach "Gründe(n) für die erkannten Spannungen im Text" (335) alternative Lösungen erwägen können und von einer ­ die synchronen ergänzenden wie überprüfenden ­ Anwendung diachroner Textzugänge plausible Erklärungen für den Textbefund erwarten dürfen. Daß sich mit dem gewählten synchronen Ansatz "nicht alle literarischen und historischen Probleme" der HR lösen lassen (35), weiß die Vfn. Ihre vielfältigen Textbeobachtungen, methodischen Reflexionen und einzelnen Interpretationsvorschläge sind aber in jedem Fall anregend und sollten bei der weiteren Beschäftigung mit dem umstrittenen Text Beachtung finden.