Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

201–203

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lienemann-Perrin, Christine, u. Wolfgang Lienemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 504 S. gr.8°. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-17-019510-3.

Rezensent:

Edmund Arens

Der Band will die Rolle von organisierten Religionen in gegen­wärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen analysieren und deren Beiträge zur politischen Öffentlichkeit eruieren. Dies geschieht in sechs Fallstudien zu afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern, welche in den 1970er bis 1990er Jahren markante Transformationsprozesse von autoritären hin zu demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnungen durchlaufen haben. Da Kirchen und Religionen in diesen Prozessen häufig als wichtige kollektive Akteure auftraten, wird jeweils nach dem Selbstverständnis, den Funktionen, Handlungsmöglichkeiten und Organisationsformen von Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften in den politischen Umbrüchen und Aufbrüchen gefragt. Dazu ziehen die Beitragenden einerseits Ansätze und Ergebnisse der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung heran, beziehen sich andererseits auf eine öffentliche Theologie sowie eine ökumenische Sozialethik.
Zunächst skizziert W. Lienemann zeitgeschichtliche Voraussetzungen, hält Entwicklungen und Klassifikationen der politologischen Transformationsforschung fest, blickt auf theologische Begleitung von sowie kirchliche Beteiligung an Transformationsprozessen und listet für die weitere Forschung wichtige Leitfragen auf. Einem begriffsgeschichtlichen Beitrag des Vf.s zu Öffentlichkeit und (Zivil-)Gesellschaft folgen gemeinsam mit F. Mathwig verfasste Überlegungen zu einer Typologie zivilgesellschaftlicher Gruppen, Funktionen und Strukturen, welche auf Kirchen als zivilgesellschaftliche Akteure in politischen Transformationsprozessen hin zugespitzt werden.
B. Lienemann beschäftigt sich mit den de­skriptiven und normativen Grundlagen der politologischen Transformationsforschung. Sie liefert im Anschluss an W. Merkel eine Typologie politischer Systeme (demokratisch, autoritär, totalitär) sowie der drei Phasen des Systemwechsels (Ende des autokratischen Systems, Demokratisierung, Konsolidierung), differenziert Ebenen der demokratischen Konsolidierung und unterscheidet vier Typen unvollständig konsolidierter Demokratie (exklusive, illiberale, delegative bzw. Enklavendemokratie).
In ihrer Fallstudie zu Südafrika konzentrieren sich K. Kusmierz und J. R. Cochrane auf öffentliche Kirche und öffentliche Theologie. Ob dieses Land angesichts der massiven ökonomischen Ungleichheit wirklich eine konsolidierte Demokratie darstellt, erscheint ihnen fraglich. Sie würdigen die Rolle der Kirchen im Übergang zur Demokratie und widmen sich deren veränderter Funktion in der Post-Apartheidzeit. Diese verlange die Förderung der individuellen Demokratie- und Zivilgesellschaftsfähigkeit sowie die Anerkennung und Akzeptanz der Multi-Religiosität, womit eine Verschiebung von der politisch-prophetischen hin zur public theology einhergehe. B. Schubert zeichnet den Beitrag der Kirchen auf Mosambiks schwierigem Weg vom Unabhängigkeitskrieg zum Frieden nach; für die Zeit des Wiederaufbaus sieht er Nothilfe, Aufbauarbeit, die Landfrage sowie den Kampfs gegen AIDS als wichtige Handlungsfelder an. Die Bedeutung der Zivilgesellschaft und darin der Kirchen für den demokratischen Übergang in Brasilien beleuchtet R. von Sinner. Er hebt sowohl die Rolle der Kirchenleitungen, vor allem der katholischen Bischofskonferenz, als auch der Basisgemeinden hervor und unterstreicht die Relevanz der Theologie der Befreiung beim Systemwandel, die s. E. heute vor der Herausforderung steht, eine Theologie der cidadania (Bürgerschaft) zu formulieren. Ch. Lienemann-Perrin und M.-H. Chung thematisieren die Transformation Koreas zur konsolidierten Demokratie, die gleichwohl Merkmale einer defekten Demokratie aufweise. Sie nehmen die Bedeutung sowohl der nichtchristlichen Religionen als auch der Kirchen in Bezug auf den Transformationsprozess in den Blick und machen deutlich, dass die oppositionellen Kreise innerhalb der Kirchen nach dem Übergang vom autoritären System zur Demokratie von einer Identitätskrise und Ernüchterung betroffen waren. Die Verfasserinnen zeigen zudem auf, wie die einstige messianisch-politische Minjung-Theologie seit den 1990er Jahren unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wiederbelebt, weiterentwickelt bzw. (allerdings allein von einem in den USA lebenden Koreaner) zur Theologie der Shimin (Staatsbürger) transformiert wurde. Den Philippinen gilt das Interesse von Ch. Kayales. Sie konzentriert sich auf die Rolle der katholischen Kirche, kirchlicher Gruppen und Leitfiguren beim Übergang vom autoritären Marcosregime zur heutigen, nach wie vor defizitären Elitedemokratie. Die öffentliche Verantwortung der Religionsgemeinschaften in Indonesien ist Gegenstand des Artikels von O. Schumann. Auf dem Hintergrund der Entwicklung seit 1945 bringt er die Zeiten der autoritären Regime Sukarnos und Suhartos und deren fünf Prinzipien der Pancasila zur Sprache, entfaltet beider darauf gegründeten Führungsanspruch im Rahmen der »gelenkten Demokratie« sowie islamische und christliche Kritik daran. Er notiert sowohl islamische Diskurse über Islam-Staat und Zivilgesellschaftskonzepte als auch christliche Stimmen zur Pancasila, welche nicht nur den Zusammenhalt der Nation beinhalte, sondern auch Recht und Gerechtigkeit betreffe und die Basis für fruchtbare interreligiöse Beziehungen bilde.
Im dritten Teil stellt B. Lienemann aus politologischer Sicht vergleichende Betrachtungen zu den Transformationsprozessen und der Rolle der Kirchen als Akteure der Zivilgesellschaft an. Systematisierend legt sie dar, dass in den sechs Ländern unterschiedliche Typen unvollständig konsolidierter Demokratie anzutreffen sind, wobei in drei Beispielen bislang erfolgreicher Transformationsprozesse die Kirchen eine eminent wichtige Rolle gespielt haben, während sie sich in drei weiteren Fällen zwar als relevante zivilgesellschaftliche Akteure bewährten, ihre Erfolge indes prekär geblieben seien. Ch. Lienemann erörtert neue sozialethische Konzeptionen öffentlicher Theologie und macht treffende Bemerkungen zu deren Wesen und Auftrag in Transformationsgesellschaften. Ch. Stückelberger schließt mit zwölf pointierten Thesen zu Strategien der Transformation mit Blick auf die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit. Im Anhang finden sich hilfreiche, tabellarisch aufbereitete Länderinformationen von B. Lienemann.
Folgende Fehler sind zu vermerken: J. Casanova ist kein »US-amerikanischer Soziologe« (114), sondern Spanier. S. 150 ist die Zählung der Teilregime durcheinandergeraten. Bei der Association of Major Religious Superiors in the Philippines handelt es sich nicht um einen »Orden« (so 347 u. 425), sondern um eine Vereinigung von Ordensoberen. S. 471 taucht eine Textpassage doppelt auf, gleichfalls S. 479.
Der ebenso umfangreiche wie differenzierte Band umfasst ein­drucks­volle Untersuchungen zu den Möglichkeiten und Herausforderungen kirchlichen Handelns in der politischen Öffentlichkeit. Das Buch bietet rekonstruktive und prospektive Analysen ausgewählter außereuropäischer Länder, in denen in den letzten beiden Jahrzehnten signifikante Demokratisierungsprozesse stattgefunden haben. Es stellt anschaulich die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Gruppierungen bei den Transformationsprozessen heraus, macht dezidiert auf die Relevanz von Religionsgemeinschaften als zivilgesellschaftlichen Akteuren aufmerksam und macht sich zudem überzeugend für eine öffentliche Theologie stark. Ein großes Verdienst dieses höchst lesenswerten Buches dürfte nicht zuletzt darin bestehen, in den theologischen Diskurs Positionen und Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung einzubringen und zugleich deren Defizit einer weitgehenden Ausblendung religiöser und kirchlicher Akteure zu korrigieren.