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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

193–195

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schluchter, Wolfgang, u. Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Asketischer Protestantismus und der ›Geist‹ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. VIII, 311 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 49,00. ISBN 3-16-148546-7.

Rezensent:

Christian Albrecht

Vor reichlich 100 Jahren legten Max Weber und Ernst Troeltsch innerhalb von nur zwei Jahren kurz hintereinander jeweils pointierte Studien über die Kulturbedeutung des Protestantismus vor. In ihrem Hintergrund stand übereinstimmend ein das kulturelle Selbstverständnis des Kaiserreichs im Kern treffendes, normatives Problem – nämlich die Frage nach dem Ursprung der Moderne: In welchem Mischungsverhältnis waren religiöse und religionsüberwindende Impulse maßgeblich für den Aufbau der modernen Welt? Schon vor Troeltsch und Weber hatten etwa Eberhard Gothein und Werner Sombart nach genealogischen Zusammenhängen zwischen Protestantismus und modernem Kapitalismus gefragt; Georg Jellinek hatte die Ursprünge der modernen Menschenrechte im Puritanismus lokalisiert und Georg Simmel hatte die Anfänge des modernespezifischen Individualismus im religiösen Individualismus gesehen. Während jene aber eher nach Genealogien struktureller Art fragten, änderten Weber und Troeltsch die Suchrichtung: Beide richteten die Frage nach der kulturprägenden Bedeutung des Protestantismus auf Transformationen der subjektiven Frömmigkeit in ethische Prinzipien. So erkannte Weber in der asketisch-protestantischen Frömmigkeit Züge von wirtschaftlich förderlichen Grundsätzen der Lebensführung, die die Ent­ stehung des modernen Kapitalismus im 17. Jh. begünstigten. Troeltsch erkannte einen subtil gebrochenen Einfluss des christlichen Personalismus auf den modernen Individualismus: Der christliche Personalismus, der bei Luther und dem Altprotestantismus noch mittelalterlich-katholische Züge getragen habe, sei im Prozess der Aufklärung teilweise überholt worden, habe sich anderenteils aber im Zuge der Aufklärung zugleich so modifiziert, dass er in dieser aufgeklärt modifizierten Gestalt eine katalysatorische Wirkung auf die depersonifizierenden Tendenzen der Neuzeit habe gewinnen können.
Webers und Troeltschs Studien stellen Resultate eines individuell verschiedenen Problemzugriffs dar: Dem einen erschließt sich das Problem eher aus ökonomisch-soziologischer Herkunfts­perspektive, dem anderen aus theologisch-historischer Herkunfts­perspektive. Sie weichen auch im Blick auf ihre gegenwartsdia­gnostischen Konsequenzen erheblich voneinander ab: Weber sah die Wirkung religiöser Motive für ein bürgerliches Berufsethos nicht mehr gegeben und propagierte die Suche nach Ersatzmotiven, während Troeltsch gerade dank seiner Betonung der kritischen Distanz des protestantischen Personalismus zur Kultur der Gegenwart unverändert Impulse einer gegenwärtigen, nicht zuletzt in der Kritik bestehenden Kulturbedeutung des Protestantismus sehen zu können meinte. Doch so unterschiedlich Webers und Troeltschs Resultate hinsichtlich ihrer Entstehungszusammenhänge, ihrer Themenfokussierung und ihrer Konsequenzen auch sind, so sehr sind sie zugleich Dokumente eines zwar intensiven, allerdings niemals spannungsfreien intellektuellen Austauschs, in dem die beiden Gelehrten sich seit 1897 als Heidelberger Professorenkollegen und »Fachmenschenfreunde« befanden.
Nachdem beide seit den späten 1890er Jahren mit der Protestantismusthematik befasst wa­ren, erschien im November 1904 der erste Teil von Webers berühmter Aufsatzfolge »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus«. Nach einer Reise in die USA, die Weber gemeinsam mit Ernst Troeltsch unternahm, ließ er 1905 den zweiten Teil folgen. Anfang 1906 lag Troeltschs große Gesamtdarstellung »Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit« vor. Im selben Jahr veröffentlichte Weber eine Skizze über Kirchen und Sekten in Nordamerika. Für den April 1906 war Weber dann eingeladen worden, in einem prestigeträchtigen Vortrag auf dem IX. Deutschen Historikertag in Stuttgart seine Thesen zur Bedeutung religiöser Bewusstseinsinhalte für die Verfassung der modernen Welt und für die Lebensführung des modernen Menschen vorzutragen. Doch er verwies die Organisatoren auf Troeltsch, den er in diesem Zusam­menhang für »den Berufeneren« erachtete. So hielt Troeltsch den Vortrag über »Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt«, der bereits im Juni 1906 gedruckt vorlag.
In den zeitgenössischen, scharf geführten Kontroversen um die Thesen von Weber und Troeltsch wurde deren Arbeitsgemeinschaft stark wahrgenommen. Erst später trennten sich die Rezeptionswege. Daran waren die beiden Autoren beteiligt – weniger durch die emotionale und intellektuelle Verkomplizierung ihres persönlichen Verhältnisses als vielmehr durch die unterschiedlichen Konsequenzen, die sie aus ihren Einsichten zogen und die zu Differenzen in der Konzeption ethischer Lebensführung, vor allem aber zu differenten Konzepten kulturwissenschaftlicher Reflexion führten.
Den äußeren Anlass – dass die Erscheinungsdaten der Schlüsseltexte der »Troeltsch-Weber-These«, wie sie von den Zeitgenossen auch genannt wurde, sich zum 100. Mal jähren – haben Wolfgang Schluchter, Mitherausgeber der im Verlag Mohr Siebeck in Tübingen erscheinenden Max-Weber-Gesamtausgabe (in der auch die oben genannten Studien Webers erscheinen werden), und Friedrich Wilhelm Graf, geschäftsführender Herausgeber der im Verlag Walter de Gruyter in Berlin erscheinenden Ernst-Troeltsch-Kritische-Gesamtausgabe (in deren Bänden 7 und 8 die genannten Studien Troeltschs erschienen sind), aufgegriffen und 2004 zu einer Tagung in das renommierte Wissenschaftsforum in Heidelberg eingeladen. Sie ist in dem hier zu besprechenden Band dokumentiert. Indessen bestand der Grund dafür, diesen äußeren Anlass überhaupt aufzunehmen, darin, dass im Zuge der Arbeiten an beiden Gesamtausgaben sich neue Einsichten in die komplexe Beziehung zwischen Troeltsch und Weber eingestellt haben – aber auch in die je individuellen Entdeckungszusammenhänge der Thesen und in die je eigenen Konsequenzen, die beide Autoren daraus zogen. Die Ta­gung zielte darauf, stärker als bisher Kontexte zu berücksichtigen: werkgeschichtliche Kontexte beider Autoren so­wie persönliche Kontexte des intensiven Austausches zwischen Troeltsch und Weber, intellektuelle Kontexte des Heidelberger Ge­lehrtenmilieus, schließlich auch thematische Kontexte, die in den Studien aufgegriffen oder durch sie erst gebildet wurden. Die Beiträge lassen, entsprechend den genannten Kontextperspektiven, drei Beschäftigungsschwerpunkte erkennen.
Einen ersten Schwerpunkt bilden individuell biographisch-werkgeschichtliche sowie einige im Austausch zwischen Troeltsch und Weber liegende entstehungsgeschichtliche Kontexte. So ori­entiert Günther Roth über die teils irritierenden Eindrücke und ihre ambivalenten Verarbeitungen, die Webers USA-Reise 1904 be­stimmten.
Hartmut Lehmann deutet Webers Entdeckung des asketischen Protestantismus als eine nicht nur wissenschaftliche, sondern auch persönliche und berufsbiographische Befreiung. Und Friedrich Wilhelm Graf listet minutiös die inzwischen erforschten Fakten über die zeitgleichen Erkundungen des Protestantismusthemas durch die beiden Autoren auf und macht deutlich, dass Abhän­gigkeitserklärungen und Prioritätsvermutungen, die die ältere Li­tera­tur durchziehen, hinfällig geworden sind. Zugleich lenkt er den Blick auf die unterschiedlich angelegten Rezeptionskanäle: Während Webers im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« gedruckte »Protestantische Ethik« eher ein fachspezifisches Kollegenpublikum erreichte, erschloss Troeltsch sich mit der Platzierung seiner Thesen in dem auf ein breites Bildungsbürgertum zielenden, ambitionierten Sammelwerk »Kultur der Gegenwart« die Aufmerksamkeit der gebildeten Laien – und mit Hilfe der »Historischen Zeitschrift« die Öffentlichkeit der internationalen Historikergemeinschaft. Um es plakativ zu sagen: Während Weber die Fachdiskussion bediente, lancierte Troeltsch seine Protestantismusthesen als einen kulturpolitischen Vorstoß.
Einen zweiten Schwerpunkt bilden die intellektuellen Milieukontexte, in denen Weber und Troeltsch sich in Heidelberg be­wegten.
Akribisch rekonstruiert Hubert Treiber den 1904 von dem Theologen Adolf Deissmann und dem Philologen Albrecht Dieterich ins Leben gerufenen Era­nos-Kreis, einen intellektuellen Freundeskreis von religionswissenschaftlich interessierten Heidelberger Professoren, der regelmäßige, vereinsmäßig organisierte Treffen zum wissenschaftlichen Austausch abhielt und dem auch Troeltsch und Weber angehörten. Treiber beschreibt einerseits die wissenssoziologischen Hintergrundsfunktionen dieses Kreises für die Belebung und Verfeinerung wissenschaftlicher Problembearbeitungen durch Einzelne. An­dererseits vermag er auch den Nachweis zu führen, dass Troeltsch und Weber den Austausch untereinander auf andere Weise gepflegt haben.
Ein dritter Schwerpunkt liegt auf den thematischen Kontexten.
Gangolf Hübinger unterscheidet zwischen Webers juristisch-ökonomischer und Troeltschs theologisch-historischer Perspektive und erkennt Wandlungen innerhalb der kantianischen Historik des Heidelberger und der an­ti­kantianischen Historik des späteren Berliner Troeltsch. Wolfgang Schluch­ter zeichnet Webers Protestantismusdeutung in die zeitgenössischen Methodendebatten der Nationalökonomie ein. Eckart Otto fragt nach unterschiedlichen Formen des Umgangs mit der Transformation von Interessen in sozial kontextualisierte Ideen bei Troeltsch, Weber und Hermann Cohen. Friedemann Voigt untersucht – ausgehend von der These, dass die bereits ab ca. 1890 intensiv geführten Debatten um die Kulturbedeutung des Protestantismus mit den Stellungnahmen von Troeltsch und Weber 1906 einen seither nicht mehr er­reichten Differenziertheitsgrad gefunden haben – die zunehmende Verfeinerung des methodischen Instrumentariums in diesen Debatten. Jean-Pierre Grossein schließlich macht gleichsam die Gegenprobe auf die den Band durchgängig leitende Kontextualisierungsthese, indem er zeigt, dass Rezeptionshindernisse, aber auch produktive Missverständnisse von Webers Protestantismusthese in Frankreich ihren Grund gerade in der Ausblendung oder in der Unkenntnis von konfessionellen, intellektuellen, politischen oder methodischen Kontexten der Entstehung dieser These haben.
Der Band vereinigt den aktuellen Stand des Fachwissens der Forschung über das diffizile Verhältnis zwischen Weber und Troeltsch zum Zeitpunkt ihrer Protestantismusstudien – und er dokumentiert damit zugleich den sachlichen Gewinn der Arbeiten an beiden Gesamtausgaben. Über Einzelnes hinaus festzuhalten ist der mit dem Sammelband erbrachte Beweis, dass die Einsicht in die Verwandtschaft der Problemstellungen es erlaubt, die Differenzen der Voraussetzungen und Konsequenzen präziser und vorurteilsfreier zu bestimmen. Das gilt für das Verhältnis zwischen Troeltsch und Weber – das gilt aber offensichtlich auch für das Verhältnis zwischen der Troeltsch-Forschung und der Weber-Forschung.