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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

191–193

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Reuter, Christina

Titel/Untertitel:

Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. VIII, 311 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 132. Geb. EUR 98,00. ISBN 3-11-018380-3.

Rezensent:

Martin Seils

In den letzten Jahren haben in der Hamannforschung von germanistischer und philosophischer Seite her poststrukturalistische, dekonstruktivistische und rezeptionsästhetische Literaturtheorien eine steigende Bedeutung gewonnen. Hamanns verrätselte Schriften mit ihrem Cento-Stil von Zitaten, Anspielungen, Verweisen und Metaphern und ihrer zugleich sich aufdrängenden Beeindruckungsintention scheinen dem entgegenzukommen und je­denfalls ein reiches Anwendungsfeld für Theorien zu bieten, die fiktionale Texte nicht einfach als auszulegende Autorenprodukte, sondern als interagierende literarische Prozesse betrachten. Die philosophische Zürcher Dissertation von Christina Reuter aus dem Jahre 2004 schließt sich inhaltlich und methodisch insbe­sondere an die in den endsechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Hans Robert Jauss und Wolfgang Iser konzipierte rezeptionsästhetische Theorie an, zieht aber auch in deren Zusam­menhang entwickelte Leitgedanken, etwa denjenigen der Intertex­tualität und der Textdialogik, mit heran. Kurz gesagt handelt es sich dabei darum, die Aktivität der Leser als Textrezipienten zu betonen und zugleich die Texte von ihrer Teilhaberschaft an einer umfassenden Wahrnehmungsgeschichte her zu verstehen.
Nach einer Einführung zu Hamann und der Hamannforschung (1–8) hat R.s Arbeit zwei große Abschnitte. Der erste, mit »Beteiligte am Sprachgeschehen« überschriebene Teil (9–103) beschäftigt sich nach einer Erörterung von Hamanns Kondeszendenzgedanken (9–26) mit Gott, Hamann und den »Rezipienten« als denjenigen, die am »Sprachgeschehen« Anteil haben (26–103). Dabei wird zunächst Hamanns Gedanke von der »trinitarische[n] Kondeszendenz Gottes« in Natur, Geschichte und Schrift dargestellt (26–47), wobei als entscheidend gilt, »dass Gott mit den Menschen ins Ge­spräch kommen möchte« (29). Dann wird »Hamann als Autor« ins Auge gefasst (47–81). Er habe sich einer »communicatio idiomatum« (herkömmlich: Austausch der Eigenschaften der göttlichen und der menschlichen Natur in der einen gottmenschlichen Person Jesu Christi) verschrieben, welche »bei Hamann eng mit einer Sprachlichkeit verbunden« sei und durch die Gott und Mensch gemeinsame Sprache eine Begegnung im Dialog, eine Beziehung, eine »unio mystica im Raum der Sprache ermöglicht« (60 f.). Hamann selbst wird dabei zum Imitator der göttlichen Kondeszendenz, während seine Texte »eine Mimesis seiner Person« (53) darstellen. Schließlich geht es um die Textrezipienten, die sich »in mutiger Demut vom Text beeinflussen«, »sich selbst durch den Text in Frage stellen« und »sich existentiell herausfordern« lassen, denn bei Hamann gehe es im Rezeptionsvorgang »um die Entstehung und Aufrechterhaltung von Beziehungen, welche ihren Raum in der Sprache, im Gespräch haben« (102).
Im zweiten Teil der Arbeit »werden exemplarisch vier Aspekte der Dialogizität Hamannschen Sprachgebrauchs und Autorschaft an einer Textbasis von drei Texten – dem Versuch einer Sibylle über die Ehe (1775), Konxompax (1779) und der Schürze von Feigenblättern (1777–1779) – untersucht« (7; 104–256), wobei es sich um die »Intertextualität im Bereich der Titelblätter«, um die »Briefgespräche über Publikationen«, um die »Metaphorizität« sowie um die »Rhetorizität« der Hamannschen Autorschaft handeln soll. Einleitend hierzu macht R. – im Sinne der Rezeptionsästhetik von Jauss und Iser (vgl. 98 ff.) – deutlich, dass sie sich zum Begriff der »Dialogizität« von den Feststellungen des Literaturtheoretikers Michail Bachtin und zum Begriff der »Intertextualität« von denjenigen der Semiotikerin Julia Kristeva bestimmt weiß. Demnach ist »Sprache … etwas inhärent Dialogisches« (108) und das »Theorem der … Einheit und Geschlossenheit« literarischer Texte aufzugeben zu Gunsten der Berücksichtigung der intertextualen Wechselbeziehungen, in denen sie sich befinden (111 f.).
Hamanns Intertextualität behandelt R. in den drei herangezogenen Schriften anhand von deren Titelblättern, wobei aufgezeigt wird, »wie weit vernetzt und vom Weltgespräch durchdrungen Hamanns Werke sind« (127). Die das Entstehen der Texte begleitenden »Briefgespräche« mit Freunden und Zeitgenossen erweisen sich als »Ort des Gesprächs, der Begegnung, Ort einer möglichen relatio« und gehören damit dem unentflechtbaren Weltgespräch an (155). Auch an der in Hamanns Texten enthaltenen Metaphorizität lässt sich die »Verbindung der Gebrauchs von Metaphern mit der Dialogizität und Kondeszendenz Hamannscher Autorschaft« (194 f.) aufweisen, wozu wiederum die Ermöglichung einer »unio mystica im Raum der Sprache« hervorgehoben wird (197). Schließlich wird gezeigt, dass Hamanns Texte »bei genauer Analyse« sich »als durchaus bewusst rhetorisch gestaltet« (201) erweisen, wobei besonders deren Appellfiguren, deren Argumentationsstruktur und deren ironische Elemente hervortreten und sich insgesamt ergibt, »dass sich Hamanns Schriften auch bezüglich ihrer rhetorischen Gestaltung durch eine kondeszendente Dialogizität auszeichnen« (212).
Ein zusammenfassendes »Schlusswort« (257–260) stellt fest, es sei gelungen, »Hamanns Sprachhandlungen ganz unter dem Zeichen der Kondeszendenz zu lesen« und damit »das Lehrstück von der Kondeszendenz Gottes zum Ausgangspunkt und hermeneutischen Prinzip von Hamanns gesamter Autorschaft zu machen« (257 f.). Dies spiegele sich »im gegenseitigen Verweisungszusammenhang von Wie und Was, von innerer Haltung und sprachlichem Ausdruck« (258). Hamann wolle »in Gesprächen neue Sichtweisen vermitteln, bisherige Systeme dynamisieren, die hermeneutische Helix in Bewegung versetzen und Epiphanien zum Durchbruch verhelfen« (259). Das geschehe durch »eine auf Dialogizität ausgerichtete Ermöglichung von Begegnungen im Raum der Sprache, die communicatio idiomatum«, in der »sich durch die fortwährenden Verbindungen der verschiedenen Kommunikationsteilnehmenden das unentflechtbare Weltgespräch« entwickele (258).
Die kritische Besprechung einer unter den Vorzeichen der Re­zeptionsästhetik verfassten Arbeit befindet sich in der Schwierigkeit, dass sie im Blickpunkt der Theorie selbst als Bestandteil des Rezeptionsprozesses geortet und dabei entweder zustimmend der Systemdynamisierung oder ablehnend dem Beharren auf vorgegebener Sinneinheit von Texten zugerechnet wird. Dies vorausgeschickt, so ist zunächst festzustellen, dass R.s Promotionsarbeit eine in der Hamannliteratur wohlbewanderte und in ihrem interpretatorischen Einsatz durchaus anrührende Bemühung darstellt. Nichtsdestoweniger lässt sich kaum ein Erstaunen darüber zu­rück­halten, dass Hamanns Autorschaft – einmal abgesehen von dessen Transzendenzbezügen – so weitgehend fugenlos den Aufstellungen der rezeptionsästhetischen Literaturtheorie entsprechen soll. Dies betrifft den Kondeszendenzgedanken Hamanns, von dem man doch wohl kaum wird sagen können, dass Gott und Hamann – trotz dessen Deminuierungsformeln – unter diesem Gedanken in einer Art analoger Identität verstanden werden können. Dies betrifft auch die Figur der communicatio idiomatum, die man lieber nicht mit irgendwelchen Gedanken an eine unio mystica zusam­menbringen sollte, weil nur bei einer präzisen – in der Arbeit nicht geleisteten – Bestimmung dessen, was »unio mystica« allenfalls bedeuten könnte, vermieden würde, dass die »communicatio« zerfließt oder gesprengt wird (die gewisse Unbeholfenheit in dieser Hinsicht wird 61, Anm. 178, besonders deutlich). Dies betrifft aber ebenfalls den so stark in den Vordergrund gebrachten »Dialogizitäts«-Gedanken, weil Hamanns Texte ja nun wirklich nicht nur beeindruckend-offene »Gespräche« führen, sondern kerygmatisch-prophetisch bestimmende Aspekte des Zeitgedankens und der Zeiteinstellung angreifen und umwenden wollen. Und natürlich mag es möglich sein, Hamanns Stil sozial- und traditionsgeschichtlich unter intertextualen Verklammerungen zu betrachten, jedoch sollte immer noch erwogen werden dürfen, ob nicht der Autor selbst ihn im Kierkegaardschen Verständnissinn als Mittel einer »indirekten Mitteilung« entwickelt und eingesetzt hat. Dankbar ist zu verzeichnen, dass R. die Hamannforschung durch die Identifizierung eines Mottos im Titelblatt der »Sibylle über die Ehe« bereicherte (117).
Die Arbeit wird im Zusammenhang der verbreiteten und an­erkannten rezeptionsästhetischen Literaturtheorie zustimmend auf­genommen werden. Eine solche Zustimmung jedenfalls hat sie angesichts ihres intensiven und bemühten Einsatzes verdient.