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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

188–190

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Figl, Johann

Titel/Untertitel:

Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. X, 396 S. 8°. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-11-019065.

Rezensent:

Andreas Urs Sommer

Dass Nietzsche ein Denker war, der über die Grenzen der Kultur hinausdachte, in die er hineingeboren war, erschließt sich schon beim oberflächlichen Lesen seiner Werke. Allenthalben macht er auf alternative Formen der Welterschließung aufmerksam, die er rund um den Globus findet und mit dem Angestammten kontrastiert. Das Ausgreifen auf fremde Kulturen hat hier einen kritischen Zweck, nämlich die fraglose Selbstgewissheit europäischer (namentlich deutscher) Welterschließung zu unterlaufen und so zur Disposition zu stellen. Manche Forscher haben in diesem Zusammenhang sogar von »Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild« sprechen wollen (Andrea Orsucci: Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin-New York 1996).
Johann Figl, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Wien, hat nicht nur durch mehrere Monographien und zahlreiche Aufsätze bereits seit Jahrzehnten die internationale Nietzsche-Diskussion mitgestaltet, sondern als Herausgeber von Nietzsches Nachgelassenen Aufzeichnungen der Kindheit, Jugend- und Studentenzeit 1852–1869 (Berlin-New York 1996 ff.) im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe für manche Aspekte dieser Diskussion erst die editorischen Grundlagen geschaffen. Wie fruchtbar gerade die Auseinandersetzung mit Nietzsches Bildungsweg für das Verständnis von Motiven seines späteren Philosophierens sein kann, beweist nun sein neues Buch. Es rekonstruiert minutiös Nietzsches Begegnung mit fremden Kulturen in seiner Kindheit und Jugend sowie seine Auseinandersetzung mit fremden Religionen während seines Studiums in Bonn und Leipzig und während seiner Tätigkeit als akademischer Lehrer in Basel. So entwirft F. eine eigentliche Genealogie von Nietzsches »transkulturellem Denken«, wie es sich dann in seinen philosophischen Werken artikuliert, und erhellt damit die Vorbedingungen für Nietzsches komparativen Ansatz im Umgang mit Kultur(en). Damit gelingt F. die Annäherung von Nietzsche-Forschung und Religionswissenschaft, die er sich in der Einleitung zum Ziel gesetzt hat, auf exemplarische Weise. Eine eigenständige, von der Theologie abgelöste Disziplin Religionswissenschaft entsteht zu Nietzsches Lebzeiten – eine Entstehung, die Nietzsche selbst mit großer Aufmerksamkeit verfolgt hat.
Im ersten Kapitel beschäftigt sich F. mit Nietzsches Bildungsgang auf dem Domgymnasium in Naumburg und in der Landesschule Pforta, von der berechtigten Vermutung ausgehend, dass es »nicht allein Wissensinhalte, sondern vielmehr Werthaltungen« waren, »die hier vermittelt« (11) wurden. F. rekapituliert zunächst das Curriculum und die christliche Ausrichtung der beiden von Nietzsche besuchten höheren Schulen – eine Ausrichtung, von der vermutet werden darf, dass sie die schulische Wahrnehmung fremder Kulturen stark geprägt hat. Aber die »sprachlich akzentuierte, klassisch-philologische Bildung in Pforta konnte … zum Ausgangspunkt auch für außereuropäische Philologien werden« (29). Gerade die hervorragende Schulbibliothek in Pforta erlaubte Nietzsche vielfältige Einblicke in Werke über fremde Kulturen, ebenso wie der Unterricht in den Sprachen, in Geschichte, Geographie und Religion. F. untersucht eingehend die Darstellung von »Rassen« und Religionen in den von Nietzsche benutzten Schulbüchern – eine Darstellung, die zeitgemäß stark eurozentrisch ausgerichtet war. Jedenfalls wird F. nicht müde, die »stark rassistischen und diskriminierenden Aussagen« (49) in diesen Büchern an den Pranger zu stellen – ein Bekenntnis zu moderner politischer Korrektheit, das wiederum die Leser durch häufige Wiederholung eher ermüdet. Besonders instruktiv ist die Rekapitulation der Begegnung mit altorientalischen Kulturen, die Nietzsche früh zu eigener poeti­scher Aneignung historischer Inhalte motiviert hat (im Stile von Shelleys berühmtem Gedicht Ozymandias – vgl. 68 f.). Aber nicht nur Ägypter und Perser wurden dem Gymnasiasten vor Augen gestellt, sondern auch die archaischen Ursprünge der griechischen Klassik. Dabei scheint eine historisch-kritische Betrachtung griechischer Mythologie und Religion auf Nietzsche abgefärbt zu haben. Im Deutschunterricht Karl August Kobersteins wurde insbesondere das Nibelungenlied und damit die germanische Mythologie einer literarhistorischen Analyse unterzogen, die Nietzsche 1861 wiederum zu einer eigenen »historischen Skizze« über Ermanarich inspiriert hat. Im Kontext solcher Arbeiten begann Nietzsche das Christentum »in einem relativ klaren Gegensatz zur … polytheistischen Welt« zu sehen und »Einflüsse des Christentums durch eine vergleichende Methode zu eruieren« (100 f.). Auch mit indischen Religionen hat Nietzsche schon während seiner Schulzeit Bekanntschaft geschlossen, wobei wiederum Koberstein eine Schlüsselrolle spielte, und zwar als Vertreter der Indogermanistik, die von der Völkerverwandtschaft von Indern, Persern und Europäern ausging. Schließlich waren nach F.s Nachweis auch Judentum – damit historische Bibelkritik! – und Islam für den Schüler recht klar konturierte Referenzgrößen. (Übrigens ist Nietzsches Sympathie für Russland gegen das Osmanische Reich im Krimkrieg kaum erstaunlich: Preußen ist gerade nicht, wie es S. 133 heißt, »auf Seiten der Türkei in den Krieg« eingetreten, sondern blieb neutral.)
Die folgenden drei Kapitel sind kürzer. Das zweite behandelt Nietzsches Zugang zur Religionswissenschaft während seines Studiums und wertet insbesondere seine weitgehend unpublizierten Vorlesungsmitschriften aus. So ist Nietzsche in einem philosophiehistorischen Kolleg von Carl Schaarschmidt mit indischer Philosophie konfrontiert worden; die Charakterisierung von Buddhismus als Nihilismus taucht hier bereits auf. Eine vergleichende Perspektive bleibt vorherrschend – ebenso wie in den Philologievorlesungen beim Orientalisten Hermann Brockhaus, bei Friedrich Ritschl und insbesondere bei Georg Curtius, der Sprachvergleichung mit Religionsvergleichung verband. Der ehemalige Leipziger Student Max Müller entwickelte zeitgleich als Professor in Oxford das Konzept einer Vergleichenden Religionswissenschaft, in dem Nietzsche später eine Bestätigung seiner eigenen Anschauungen finden sollte, die in den Anregungen von Curtius gründen.
Das dritte, »religionswissenschaftlich relevanten Fragen in Nietzsches akademischer Tätigkeit« (229) gewidmete Kapitel setzt ein mit der Rekapitulation von Nietzsches Müller-Lektüren während seiner Basler Professorenzeit. Gerade für seine spätere Rede vom »Tod Gottes« fand Nietzsche da Vorgaben, obwohl Müller an den fraglichen Stellen die Idee noch nicht auf die christliche Welt ausgeweitet hatte. Religionsethnologie wurde zu einem wichtigen Interessensgebiet, auf dem sich Nietzsche in seinen Vorlesungen etwa über den »Gottesdienst der Griechen« bewegte. Er rezipierte dabei insbesondere Edward Burnett Tylor und John Lubbock. Etwas seltsam mutet es im Zusammenhang mit der Basler Professur an, dass Nietzsches Interessenkonvergenz mit dem dortigen Kollegen Johann Jacob Bachofen von F. gar nicht und diejenige mit Jacob Burckhardt nur am Rande erwähnt wird. Auch die Versuche von Nietzsches engem Freund Franz Overbeck, eine profane Religionsgeschichte des Christentums zu schreiben, hätten Beachtung verdient, weil sie wesentlich einen fremden Blick aufs Eigene befördern.
Das vierte Kapitel schließlich geht den Ansätzen transkulturellen Denkens in Nietzsches eigentlich philosophischem Werk nach. Dabei ist die Feststellung wesentlich, dass seine Philosophie »in methodologischen und inhaltlichen Aspekten weithin von der Philologie geprägt« bleibe (267). Hier stimmt F. mit den jüngsten Erkenntnissen von Christian Benne (Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin-New York 2005) überein. Exemplarisch wird das Fortwirken einer früh entwickelten wissenschaftlichen Haltung von F. an kulturübergreifenden Perspektiven in der Geburt der Tragödie festgemacht, an Nietzsches anhaltendem In­teresse an östlicher Philosophie sowie an seinem Umgang mit Religionsstiftern und der Wiederkunftslehre. Aus diesem Kapitel, in dem manches sehr skizzenhaft bleibt, ist viel Gewinn für die philosophische Nietzsche-Interpretation ebenso zu schlagen wie für eine systematische Besinnung auf Nietzsche, der in Menschliches, Allzumenschliches I von einem »Zeitalter der Vergleichung« gesprochen hat – damit von einem Zeitalter, das ein »historisches Philosophiren« unabdingbar mache. F.s genealogische Arbeit an der Herkunft von Nietzsches »transkulturellem« Ansatz erweitert den Horizont der Nietzsche-Forschung wesentlich.