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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1023–1026

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jaspert, Bernd

Titel/Untertitel:

Sachgemäße Exegese. Die Protokolle aus Rudolf Bultmanns Neutestamentlichen Seminaren 1921–1951.

Verlag:

Marburg: Elwert 1996. X, 275 S. gr. 8° = Marburger Theologische Studien, 43. Kart. DM 48,­. ISBN 3-7708-1062-7.

Rezensent:

Otto Merk

Es gilt, eine außergewöhnliche Dokumentation anzuzeigen. R. Bultmann hat während seiner gesamten Marburger Lehrtätigkeit als Professor, vom Sommer-Semester 1921 an bis einschließlich Sommer-Semester 1951, Seminarprotokolle fertigen lassen. Von den 58 Seminaren sind die Protokolle von 52 dieser Lehrveranstaltungen vorhanden. Es handelt sich um 13 Bände, in der Marburger Univ. Bibliothek unter der Signatur Ms 986/1-13 aufbewahrt, denen unter der Signatur Ms 986/14-25 weitere Bände mit Kollegnachschriften bisher unbekannter Schreiber beigeordnet sind, wie Jaspert (im folgenden J.) in seiner "Einleitung" darlegt (1 ff.). Diese betreffen Vorlesungen von "Kittel, Bultmann, Jülicher, Heinrici, v. Schubert, Hermelink, Boehmer, Herrmann, Bornhäuser, Ehrenberg, Bauer, Jelke, Fehr, Troeltsch, Herre, Hauck, Althaus, Volkelt, Stephan, Heitmüller, Rade und Simons". Auf diese theologiegeschichtlich nicht unwichtigen Nachschriften sei ausdrücklich verwiesen. Die genannten Manuskripte wurden im März 1983 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg an die Univ. Bibliothek weitergeleitet(1).

Es muß als ein Glücksfall für die neutestamentliche Wissenschaftsgeschichte angesehen werden, daß sich ein so hervorragender Kenner der Persönlichkeit und des Werkes Rudolf Bultmanns wie J. dieser Protokolle in mühevoller Auswertung angenommen hat. Aus den 3605 Seiten Text der Protokollbücher bietet er in "regestenartige(r) Darstellungsform" (2) einen ebenso übersichtlichen wie inhaltsreichen Bericht über die Seminare, ihren Aufbau und ihre Durchführung, ihre gedankliche Gliederung und kritische Durchdringung des Stoffes. Bultmanns besonderes Anliegen, den jeweiligen Teilnehmerkreis am eigenen Denken und Forschen teilhaben zu lassen, ist zu zeigen J. eindrucksvoll gelungen. "Der wesentliche Inhalt jedes Sitzungsprotokolls" ist "wiedergegeben und wo immer möglich auch mit Textzitaten belegt. Auf diese Weise ist ein Einblick in dreißig Jahre Forschungs- und Lehrtätigkeit Bultmanns gegeben, wie er uns in dieser Art bisher noch nicht möglich war" (2).

Die Liste der Teilnehmer, jeweils den Seminarprotokollen eines Semesters vorangestellt und von Bultmann rubriziert in "ordentliche" bzw. "neue" Mitglieder, "außerordentliche" bzw. "alte" Mitglieder und Gäste, deren Durchprüfung für J. mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war (11 f.), ist ungewöhnlich aufschlußreich für Wissenschaft und Kirche (8 f.) und spiegelt viele bewegende Schicksale unseres Jahrhunderts. Nicht zuletzt der Sachverhalt, daß aus Bultmanns Seminar der "Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands" (1924 [1925]) hervorging, zeigt Einsatz für und Förderung der Studierenden durch den Marburger Gelehrten(2).

Bultmann ließ in seinen Seminaren vielfach Referate halten, auf deren kritisch-fördernde Besprechung er großen Wert zur theologischen Urteilsbildung der Studierenden legte(3). Leider sind trotz J.s Recherchen nur wenige Autoren der Referate zu ermitteln, da diese als solche nicht direkt in die Protokolle eingingen. Lediglich das von Heinrich Ott "Zur Exegese von Röm. 13,1-7" (140-149), das in die exegetisch-theologische Forschung der Gegenwart aufgenommen werden sollte, ist vollständig dem Protokoll beigefügt(4). Eine vollständige Auflistung aller Seminarreferate bietet J., S. 161-172.

Unter den Referaten, in diesem Falle schon Vortrag, ist Martin Heideggers Beitrag im Seminar "Die Ethik des Paulus" (WS 1923/24) zu nennen, der bisher nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke eingegangen ist: "Das Problem der Sünde bei Luther" (28-33, in wörtlicher Wiedergabe des Protokolls durch "N. N." u. Heinrich Schlier)(5). Daraus nur: "Der Gegenstand der Theologie ist Gott; ihr Thema der Mensch im Wie seines Gestelltseins vor Gott. Das Sein des Menschen ist aber zugleich auch ein Sein in der Welt und es besteht für ihn auch die ganze Problematik der Welt" (28). Dies wird an Luthers radikalem Sündenverständnis aufgezeigt und weitergeführt bis zum Tagebuch Kierkegaards von 1852 (II, 284 ff.) als nähere Erläuterung Luthers (33).

Bultmanns eigenes Interesse an der Theologie Luthers wird in zwei Seminaren besonders herausgestellt: "Luthers Auslegung des Galaterbriefs" (SS 1927, J., 46 ff.) und "Luthers Erklärung des Römerbriefs" (SS 1930; J., 65 ff., mit zugleich der Höchstzahl von annäherend 100 Teilnehmern). Beide Seminare zeigen Bultmanns starke Beachtung des Reformators für seinen eigenen theologischen Ansatz (vgl. u. a. J., 5), aber auch, wie Claus Westermann als Protokollant notiert, in einer Zurückführung auf Wilhelm Herrmanns Lutherverständnis (67). Abschließend und wohl als Summe des Seminars: "Wenn unsere iustificatio nur im Vollzug der iustificatio Gottes geschehen kann, muß unser Reden von Gott immer Gebet sein, Gebet und zugleich Bekenntnis", womit ein zentraler Hinweis für das Verständnis des Gebets bei Bultmann angeführt wird (ebd.).

Die behandelten Seminarthemen lassen überhaupt in erheblicher Breite den Bereich und Verlauf von Bultmanns eigener Forschung von der ’Religionsgeschichtlichen Schule’ an bis zu seiner "Theologie des Neuen Testaments’ (1948-1953 in 1.Aufl.) erkennen, wie die ausführlichen Auflistungen von J., (188-209) eindrucksvoll bestätigen. Sie spiegeln Themen(6) zur Religionsgeschichte und zum Urchristentum, vielfach synoptische Fragen, ältere wie neuere Paulusforschung; Johannesevangelium und Johannesbriefe, "neutestamentliche Grundbegriffe" (Bultmann gibt hier zentrale Einblicke in seine später veröffentlichten Beiträge im ThWNT).

Von Brisanz und Wegweisung zugleich ist das im WS 1934/ 35 gehaltene Seminar "Christentum und Staat nach der Lehre des NT" (87 ff., J., 74 ff.; mit 74 Teilnehmern), bei ­ wie das Protokoll festhält ­ durchaus kontroverser Meinung der Seminarmitglieder (90). Weiter werden behandelt Themen zu Kirche, Hebräerbrief, oft weitgefaßt Fragestellungen zur neutestamentlichen Theologie. Das abschließende Seminar im SS 1951 galt dem Thema: "Paulus und die Gnosis" (J., 157 ff.), einer Bultmann lebenslang wichtigen Problematik. Im Protokoll wird als Bultmanns damals abschließende Feststellung in der letzten Seminarsitzung seiner aktiven Dienstzeit festgehalten: "daß Paulus natürlich nicht nur Gnostiker sei; daß es aber notwendig ist, Paulus im Zusammenhang mit allen religiösen und geistigen Bewegungen seiner Zeit verstehen zu lernen" (J., 160). Mit einem Verzeichnis von Bultmanns Lehrveranstaltungen (1921-1951, 210-221; 221 auch Auflistung seiner verschiedenen Gießener und Marburger Wohnungen(7), und sehr ausführlichen, den Band vorzüglich aufschlüsselnden Registern (222-275) schließt die Bearbeitung der Seminarprotokolle. ­ Ein gut in die Sachfragen einführendes Vorwort von Hans Hübner (Göttingen) ist dem Band vorangestellt (IX f.).

Der Gesamtertrag liegt zum einen in vertiefender Kenntnis von Bultmanns Denkweg, wobei die Protokolle zahlreiche einzelexegetische Hinweise und theologische Fragestellungen des Marburgers in präzisierenden Akzentuierungen aufzeigen. Zum anderen wird durch diese Protokolle deutlich, daß ’sachgemäße Exegese’ zu einer Sachkritik führt, die den Dozenten ­ und Bultmann gab seinen Seminaren durchaus eigene prägende Gewichtung ­ und die Studierenden im Miteinander kritischen Gesprächs unter die Zucht gemeinsam zu verantwortenden Denkens stellte(8). Mit Recht hat Hans Jonas, selbst Seminarteilnehmer Bultmanns, es im Rückblick auf diese Seminare so formuliert(9):

"Rudolf Bultmann erschloß mir das Neue Testament; was ich davon weiß und als Nichtchrist... verstehe, geht irgendwie auf ihn zurück ... Was hieß hier lernen? Die protestantische Freiheit galt auch im Lehrverhältnis: Er bestand auf Verstehen, aber nicht auf Übereinstimmung. Es ging gründlich zu, aber niemals apodiktisch. Im Gespräch war Erwägen der Stil, nicht Behaupten. Überhaupt war jede ex cathedra-Manier ihm fremd und er drängte wie selbstverständlich auf Ebenbürtigkeit der Partner, wie es nur große innere Sicherheit vermag und nur im Verein mit Demut auch tut. Unbesonnenes Gerede, im voraus beschämt, kam vor solcher Ehrung und dem ständigen Beispiel der Besonnenheit nicht auf. Und kein Feuerwerk des eristischen Arguments. So lernte man das Neue Testament interpretieren als wagend-erprobenden Versuch, dem Gelehrsamkeit die Beglaubigung, aber nicht schon das Gelingen verleiht. Eine unvergeßliche Schule fragenden Denkens".

Schließlich ist, worüber J. nicht zu handeln hatte, zu erwähnen: R. Bultmann hat die Leitung von Proseminaren als die vornehmste und wichtigste Aufgabe des Hochschullehrers angesehen und sehr bewußt Teilnehmern im neutestamentlichen Proseminar gelegentlich den gleichzeitigen Zugang zum Seminar ermöglicht, wie auch zahlreiche Protokolle vorliegenden Bandes erkennen lassen.

Bernd Jaspert gebührt hoher Dank für seine entsagungsvolle und kompetent kommentierende Herausgebertätigkeit dieses Bandes(10), der wissenschaftsgeschichtlich über Einzelheiten hinaus die Verbindung von Forschung und Lehre als unabdingbare Aufgabe der Universität an einem eindrücklichen Beispiel aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dokumentiert.

Einige kleinere Druckversehen sind nicht zu erwähnen, jedoch: S. 65 (und Register, 259) lies: Otto Glombitza; S. 17 (und Register, 224) lies: 1Kor 8,7-13; S. 117 genauer: J. Weiß, Der erste Korintherbrief, KEK X, erschien 91910; 101925; S. 221: Bultmann starb am 30.7.1976.

Fussnoten:

(1) Zur Vorgeschichte kann ich aus eigener Kenntnis über das von J. Recherchierte hinaus Folgendes hinzufügen: Anfang der 70er Jahre, als Bultmann Skripten aus seinem Leben ordnete (und wegwarf) hat er eingehend mit seinem Nachfolger Werner Georg Kümmel, ­ zugleich selbst einstiger Seminarteilnehmer ­, über die Seminarprotokolle beraten, da er unschlüssig war, ob diese erhaltenswert seien. Auf Kümmels ausdrückliche Argumentation für den Erhalt gab er diese seinem Nachfolger zur Verwahrung. Kümmel und ich hoben sie in unseren Dienstzimmern auf. Nach Kümmels Emeritierung und bei meinem Ausscheiden aus dem Fachbereich durch Wegberufung wurden sie zu treuen Händen dem 1973/74 amtierenden Dekan des Fachbereichs Theologie gezeigt und zur Betreuung übergeben. Durch eine wissenschaftsgeschichtliche Diskussion im Kreis der ’Alten Marburger’ während einer Tagung in Hofgeismar in der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurde erstmals Kenntnis in einem breiteren Kreis von den Protokollen gegeben und meines Wissens durch den damaligen Leiter dieses Kreise, Prof. Dr. Erich Dinkler, gest. 1981, angeregt, durch Standort in der Univ. Bibliothek die Skripten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
(2) Vgl. auch den weiterführenden Aufsatzband und Katalog von M. Lemberg, Es begann vor hundert Jahren. Die ersten Frauen an der Universität Marburg und die Studentinnenvereinigungen bis zur "Gleichschaltung" im Jahre 1934. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Marburg vom 21. Januar bis 23. Februar 1997, Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 76, Marburg 1997; ferner die Aufzeichnungen mit zahlreichen Lebensläufen von auch Schülerinnen Bultmanns in: "Dem Himmel so nah ­ dem Pfarramt so fern. Erste Evangelische Theologinnen im geistlichen Amt", bearb. v. H. Erhart u. a., Neukirchen 1996, bes. 7 ff.47 ff.117 ff.135 ff.
(3) Zur Bedeutung der Referate in Bultmanns Seminaren vgl. auch H. Jonas, Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seines Werkes, in: Gedenken an Rudolf Bultmann ..., hrsg. v. O. Kaiser, Tübingen 1977, 41-70, hier: 42 f.
(4)Gehalten am 22. Mai 1950; auch die anschließende, im Protokoll referierte Diskussion (150) darüber verdient noch heute Beachtung.
(5) Eine davon abweichende, ursprünglich stenographische Wiedergabe von Wilhelm von Rhoden findet sich ausgeführt im Protokoll der Tagungen Alte Marburger 2.-4.1.1992 u. 4.-6.1.1993 in Hofgeismar, 1993, S. 118 ff.; vgl. J., 12.
(6) Vgl. zu den Themata seiner Seminare auch R. Bultmanns Brief an A. v. Harnack vom 18.2.1930, erstmals publiziert in: Protokoll der Tagung Alte Marburger 2. bis 4. Januar 1996 in Hofgeismar, 1996, 7.
(7) Nach R. Bultmanns Brief an A. Jülicher vom 18.2.1921, erstmals publiziert im Protokoll der Tagung Alte Marburger 2. bis 4. Januar 1995 in Hofgeismar, 1995, 17, wohnte er in Gießen Löberstraße 20.
(8) Das wird auch an den von Bultmann vergebenen Seminararbeiten deutlich; vgl. R. Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders., Exegetica ..., hrsg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 198 ff., hier: 206 Anm. 11.
(9) Zitiert auch bei J., 3 f; vgl. H. Jonas, Anm. 3, 42 (danach angeführt).
(10) Zu J. als Bultmann-Forscher vgl. die zahlreichen Titel in der Bibliographie der ihm gewidmeten Festschrift: Wandel und Bestand. Denkanstöße zum 21. Jahrhundert. Festschrift Bernd Jaspert zum 50. Geburtstag, hrsg. v. H. Gehrke, M. Hebler OSB, H.-W. Stork, Paderborn 1995, 779-940 (passim).