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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

172–174

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gire, Pierre

Titel/Untertitel:

Maître Eckhart et la métaphysique de l’Exode.

Verlag:

Paris: Cerf 2006. 420 S. gr.8° = Patrimoines christianisme. Kart. EUR 45,00. ISBN 2-204-07984-7.

Rezensent:

Virginie Pektas

Seit den ersten Übersetzungen von Meister Eckharts Predigten durch Jeanne Ancelet-Hustache (zwischen 1974 und 1979) mehren sich in Frankreich Studien zu seinem Denken und Übertragungen seiner Werke. Absichtlich wird das Wort »Denken« hier verwendet, vermieden werden die Begriffe »Philosophie«, »Theologie« oder »My­stik«. Denn: Geht es darum, Meister Eckhart und seine Schriften zu definieren, so scheiden sich die Geister. Da, wo manche einen großen Philosophen sehen, der die Lehre des Albertus Magnus weiterentwickelte, die christliche Tradition mit der neuplatonischen Phi­losophie und der augustinischen Theologie harmonisch verband, erkennen andere den Gründer der deutschen Mystik, der kühn mystische Erfahrungen mittels theologischer Werkzeuge theoretisch zu artikulieren wusste. Dies gilt vor allem in Deutschland. In Frankreich aber wird Meister Eckhart traditionell als Mys­tiker angesehen, freilich ohne dass der Begriff »Mystik« und genauso wenig sein Verhältnis zur Philosophie reflektiert werden. Es sei hier zu bedauern, dass die Ergebnisse der deutschen Forschung dort wenig Anklang gefunden haben. Umso begrüßenswerter ist das Erscheinen der exzellenten Studie des Philosophen Pierre Gire, der sein Werk schon 1989 verfasst und erst 2006 mit einer revidierten Bibliographie veröffentlicht hat. Die inhaltliche Stärke seiner Arbeit beruht auf den folgenden drei Punkten.
Die Studie selbst artikuliert sich erstens vorwiegend um einen einzigen Text Meister Eckharts, seine Expositio Libri Exodi, und erhält somit ihre Einheit: Die Eckhartsche Metaphysik des Seins ist zentral für die hier angebotene Interpretation. Zweitens sei die Anlehnung G.s an die Arbeit Alain de Liberas erwähnt, deren Interpretationen er weitgehend übernimmt. Zwar ist hier die Methode zu kritisieren, die darin besteht, ausgiebig ganze Auszüge vorwiegend aus den Werken de Liberas, aber auch anderer Forscher in den Anmerkungen zu zitieren. In der Tat dünkt es dem Leser, dass jene Zitate parallel zum Haupttext bestehen, anstatt mit der gesamten Argumentation eine Einheit zu bilden. Aber damit stützt G. auch seine Argumentation auf Schlüsse der zeitgenössischen Forschung. Nun kennt Alain de Libera selbst die Ergebnisse der deutschen Forschungsarbeiten zu Meister Eckhart und hat sie sogar mitgestaltet. Eine wichtige Annahme ist die Einheit der lateinischen und der deutschen Werke, die nicht in ein theologisches und ein anderes, eher mystisches Werk geteilt werden. Vielmehr entsprechen bestehende Unterschiede verschiedenen Sprachniveaus: dem theolo­gischen, dem philosophischen und dem mystischen Diskurs, al­lerdings nicht so, dass es dann drei verschiedene Diskurse gäbe, sondern so, dass alle drei miteinander verknüpft sind, aufeinander aufbauen, sich sogar gegenseitig legitimieren. Drittens ordnet G. Meister Eckhart immer in die Tradition einer exegetischen und philosophischen Denkgemeinschaft ein. Nie wird das Eckhartsche Denken in einer Art mystische »Verschwommenheit« umhüllt. Das Mystische selbst wird also nur als die – freilich neuplatonische – Suche nach dem göttlichen Sein, nach unserem Ursprung verstanden. Diese Suche kann aber nur metaphysisch und philosophisch, niemals persönlich, subjektiv erklärt werden. Sie ist nicht Objekt der Philosophie, höchstens Anfang und Ende, im aristotelischen Sinne causa, Beweggrund. So kann G. Eckhart legitim als einen Mystiker und Philosophen definieren, vermeidet es gleichwohl, aus Eckhart den »Initiator« einer mystischen Tradition zu machen, die gewiss nach ihm existierte und zentrale Punkte seines Werkes re­zipierte, für die er aber nicht bürgte. Vielmehr – so G. – bestand Eckhart auf »die Rationalität der Welt und des Glaubens«, rekurrierte auf die auctoritates der Kirchenväter und die Schriften seiner Vorgänger, befreite sich somit von einer subjektiven Interpretation zu Gunsten einer unbestreitbaren Objektivität (48).
Diese zentrale These bestimmt die Struktur des Werkes, das selbst die innere Dynamik des Denkens Eckharts widerspiegeln soll: von der dialektischen zur theologischen und schließlich zur metaphysischen Sprache; vom Absoluten – mit den paradoxen Definitionen als dem Einen, dem Sein und dem Intellekt – zu seinem Ausgehen in den Logos, in das Verb, in die Seele; von der Seele zurück – im neuplatonischen Sinne – zum göttlichen Ursprung. Zu beachten ist: Weder werden drei verschiedene Diskurse vorausgesetzt noch werden drei getrennte, teilweise miteinander konkurrierende metaphysische Richtungen angenommen: eine Metaphysik des Seins, des Verbs und eine Henologie. Meister Eckhart hat eher drei spekulative Ebenen entwickelt, die Ausdruck einer einzigen Wahrheit sein sollen: »der Offenbarung des Absoluten als eines sich selbst als selbstreflexiv behauptenden Subjektes« (177).
So kann G. seine Hauptthese untermauern: Die Metaphysik des Verbs und die – mystische – Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung sind ohne die Metaphysik des Seins nicht zu denken. Jenseits unserer Raum- und Zeitvorstellungen entspricht der Ausgang von der Einheit zu der Dreiheit, vom Prinzip zum Logos, vom Vater zum Sohn bis zur Schöpfung einer einzigen Tat der Gottheit: Gott sprach, und er sprach nur einmal. Die Metaphysik des Seins erfordert die Metaphysik des Verbs und impliziert die ganze Schöpfung, die ontologisch an das Absolute gebunden ist, ohne ihm gleichgestellt zu sein. Zwar ist die Schöpfung ein Herabfallen von der Einheit in die Mehrheit. Dennoch besitzt die Menschenseele durch ihren göttlichen Ursprung und die Inkarnation die Möglichkeit, zum Einen, zum Ursprung zurückzukehren. Der Weg von der menschlichen Nichtigkeit zum göttlichen Sein bzw. zum göttlichen Nichts ist – wie G. es sehr gut verdeutlicht – ein ontologischer Weg. Diese spirituelle Übung der Gelassenheit, der Abgeschiedenheit ist jedoch keine Negation des Individuums, sondern führt es zurück zu seiner Essenz. Die »unio«, wie G. es unterstreicht, ist keine subjektive, keine empirische, sondern besitzt »die Dichte einer ontologischen Angleichung« (280). Hier betont G. weiterhin das neuplatonische Erbe der Werke Eckharts, differenziert aber sehr fein zwischen der plotinischen, der dionysischen und der augustinischen Tradition und dem innovativen Charakter des Denkens Eckharts.
Wenn G. die Rückkehr der Seele zum Absoluten analysiert und dem gesamten metaphysischen Gefüge zuordnet, stützt er sich zwangsläufig auf die deutschen Predigten und Traktate. Nun verlässt er sich auf die Übersetzungen von J. Ancelet-Hustache, die in den 90er Jahren stark von A. de Libera kritisiert wurden, versäumt es aber, die deutschen Originaltexte in den Anmerkungen wiederzugeben, obwohl er dies für die lateinischen Zitate konsequent durchführt. Damit ist dem Leser die Möglichkeit eines Vergleiches vorenthalten. Hinzu kommt, dass der Verzicht auf eine präzise Zitierweise (z. B. mit Absatznummern in Anlehnung an die deutsche kritische Gesamtausgabe oder mit Seitenangaben der französischen Ausgabe) eine Identifizierung erschwert. G. gibt lediglich den Titel der deutschen Predigten oder Traktate an, während er für die lateinischen Werke stets präzise Angaben macht. Dies ist allerdings die Hauptkritik an einer sonst hervorragenden, weil streng argumentierenden Studie, welche die Ergebnisse der deutschen und der französischen Forschung verbindet.