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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

166–169

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Strüder, C. W.

Titel/Untertitel:

Paulus und die Gesinnung Christi. Identität und Entscheidungsfindung aus der Mitte von 1Kor 1–4.

Verlag:

Leuven-Paris-Dudley: Peeters; Leuven: Leuven University Press 2005. LII, 545 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 190. Kart. EUR 80,00. ISBN 90-429-1653-2 (Peeters); 90-5867-486-X (Leuven University Press).

Rezensent:

Lars Aejmelaeus

Das Buch ist ursprünglich im Jahre 2004 an der Katholischen Universität Leuven als Dissertation vorgelegt worden. Für eine Dissertation ist es nicht nur ein ungewöhnlich umfangreicher, sondern auch inhaltlich ein außerordentlich interessanter und wertvoller Beitrag zur Paulus-Forschung.
Obwohl die paulinischen Briefe und unter ihnen besonders 1Kor bereits ausgiebig untersucht worden sind, gibt es immer noch die Möglichkeit für einen neuen fruchtbaren Blickwinkel. Die bekannten Texte und ihre Inhalte können plötzlich etwas anders aussehen, wenn man aus einer neuen Perspektive in ihnen einen roten Faden entdeckt, der bislang in den Texten nicht klar genug sichtbar gewesen war. Dies geschieht in einer überzeugenden Weise in dieser Untersuchung. Der Halbvers 1Kor 2,16b »wir aber haben die Gesinnung Christi« ist nach dem Vf. der Schlüssel, der nicht nur das Textmaterial der Kapitel 1Kor 1–4, sondern daneben auch viele Stellen vom ganzen 1Kor und von anderen Briefen des Apostels besser zu verstehen hilft. Der Terminus »Gesinnung Chris­ti« (nous Christou) ist dem Vf. zufolge der Schlüssel zur paulinischen Paränese. Mit ihm versteht man, warum Paulus in seinen Briefen so argumentiert, wie er es tut. Dieser Schlüssel verbindet auch die Christologie, und das heißt bei Paulus: die Kreuzeschristologie, mit den Ermahnungen. Lehre und Leben des Apostels gehören eng zusammen, und so soll es auch bei den Korinthern sein. Paulus hat die Gesinnung des am Kreuz gestorbenen Christus. Er lebt und wirkt in Übereinstimmung mit ihr. Die Korinther sollen seine Nachfolger sein, so wie er Nachfolger von Christus ist. In diesem Sinne bilden die Verse 1Kor 1,10; 2,16b; 4,16 den Rahmen, der in 1Kor 1–4 den Gedankengang strukturiert. Obwohl Paulus den Terminus »Gesinnung« nicht oft gebraucht, kommen dieses Wort sowie Wörter aus demselben Stamm doch an bedeutsamen Stellen vor, und zwar dort, wo Paulus christologisch-paränetisch etwas Wichtiges aussagen will. Und auch wenn er keine Wörter aus diesem Wortstamm anwendet, so findet man doch dieselbe Idee der Gesinnung Christi an vielen Stellen, an welchen er den Christen Ratschläge und Ermahnungen gibt.
Die kreuzeschristologische Begründung der Ermahnungen mit Hilfe der Gesinnung Christi funktioniert jedoch nicht im Verhältnis zu jedem Problem. Wenn Paulus zum Beispiel in 1Kor 7 Probleme der Sexualität und Ehe behandelt, weiß er keine endgültigen Antworten zu geben, weil sich hier die Paränese aus der »Gesinnung Christi« heraus nicht anwenden lässt. Hier argumentiert Paulus nur mittels des Hinweises auf den »Geist Gottes«, den auch er besitzt (1Kor 7,40). »Die allgemeinere ›spirituelle Begabung‹, die Paulus mit dem pneuma theou für sich in Anspruch nimmt, erlaubt ihm also eine Ausweitung des Beurteilungsfeldes. Mit dieser Ausweitung sinkt jedoch die Überzeugungskraft der Argumentation« (425 f.). Die Richtschnur der Gesinnung Christi lässt sich dann nicht an­wenden, wenn Paulus in 1Kor 11,2–16 das Problemfeld der ge­schlechtsspezifischen Regelungen behandelt. Darum findet er auch vor sich selbst keine letztlich überzeugenden Argumente. »Es gibt Lebensbereiche, in denen die christliche Ge­sinnung ... eine größere Wahlfreiheit ermöglicht als dies aus der Perspektive gesellschaftlicher Konventionen gestattet ist« (450). Auch Paulus hätte seinem eigenen Prinzip der Gesinnung Christi bisweilen besser folgen können. Besonders klar wird dies bei dem Schweigegebot der Frauen (1Kor 14,33b–36), wenn die Verse – wie der Vf. die Stelle am liebsten auslegen will – tatsächlich von Paulus selbst stammen (476 f.).
Wie in vielen anderen Dissertationen, so findet man auch in diesem Buch viel Material, dessen Aufgabe nur darin besteht, die Deutung des Vf.s abzusichern, und das für den Beweis der Grundthese des Buches nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Der Leser wäre schon auf Grund weniger Seiten überzeugt. Viele Seiten werden zum Beispiel dem Beweis gewidmet, dass der Brief einheitlich ist und dass die Kapitel 1–4 zur Ganzheit des Briefes gehören. Wichtig für die Argumentation des Vf.s ist es jedoch, zeigen zu können, dass ein klarer Konsens darüber besteht, dass die Kapitel 1–4 eine inhaltliche Einheit bilden, die sich vom Inhalt des übrigen Briefes unterscheidet – gleich, wie man über die Entstehungsgeschichte des Briefes auch immer denkt. Dagegen bleibt das letzte Kapitel, in dem der Vf. zu zeigen versucht, dass das Prinzip der Gesinnung Christi auch in anderen paulinischen Briefen zu finden ist, etwas zu oberflächlich. Auf fast 50 Seiten werden lange und inhaltsreiche Textstücke aus Phil, Röm und 2Kor analysiert. Besonders bei der Analyse der Kapitel 2Kor 10–13 in ihrer komplizierten rhetorischen Situation kann man sehen, dass der Blickwinkel der Gesinnung Christi einerseits äußerst vielversprechend ist, dass der Vf. aber andererseits nicht mehr genügend Zeit und Kraft für die Durchführung des Programms gehabt hat. Auf jeden Fall kann er in der Tat so vieles zu Tage fördern, dass die Gesinnung Christi mit großer Wahrscheinlichkeit auch in diesen Briefen als ein hilfreicher hermeneutischer Schlüssel für die Ermahnungen des Paulus dienen kann, aber die Weise, wie manche einzelne exegetische Probleme hier ignoriert werden, bildet einen deutlichen Kontrast zu der Genauigkeit, mit der ähnliche Fragen im Text von 1Kor 1–4 und auch in dem übrigen 1Kor behandelt werden. Vielleicht könnte der Vf. diesen Mangel in einer weiteren Monographie beheben?
Wenn der Vf. sich auf das eigentliche Problem konzentriert, was doch den Hauptinhalt des Buches bildet, argumentiert er meist sehr überzeugend. Von dem Blickwinkel der Gesinnung Christi aus lassen sich die Ermahnungen des Heidenapostels wirklich gut interpretieren. Man kann sogar mit dem Vf. zu der Schlussfolgerung kommen, dass Paulus tatsächlich auf diese Weise seine Ratschläge für ein echtes christliches Leben untermauern wollte. Zuerst wird in den Kapiteln 1–4 das christologische Fundament gelegt, indem Paulus den Inhalt der Gesinnung Christi klärt und diese den Gemeindegliedern vermittelt. Diese Gesinnung hängt eng mit der Torheit des Evangeliums vom gekreuzigten Christus zu­sammen und ist etwas der Weisheit der Welt Entgegengesetztes. Die Liebe zum Nächsten und das Verantwortungsgefühl ihm ge­genüber sind nahe Synonyme der Gesinnung Christi. Der Hauptzweck der vier ersten Kapitel besteht in der Vermittlung dieser Gesinnung Christi an die Korinther, in der Verkündigung des Wortes vom Kreuz geschieht.
Die Kapitel 1–4 werden methodisch genau aus verschiedenen Blick­winkeln untersucht. Die ausführlichen Erwägungen über die Gattung der Kapitel, die am Ende keine reinen »Verteidigungs- oder Mahnreden«, sondern eine Mischform von beidem darstellen sollen, hilft bei der Interpretation nicht sehr viel weiter. Hilfreicher sind dagegen die Beobachtungen über die einzelnen rhetorischen Redeweisen des Paulus, z. B. über die paradoxen Redeweisen und den Zweck, den diese haben. Die Betrachtungen über den Aufbau der Kapitel und die Definition ihrer Zweckbestimmung, die dadurch gestützt wird, sind bei der Beweisführung dessen, dass der Halbvers 2,16b wirklich den sachlichen Kern der Kapitel 1–4 bildet, sehr hilfreich. Paulus scheint in der Tat auch mit der Disposition den Hauptzweck des Textes, d. h. die Vermittlung der Gesinnung Christi, betont zu haben. Die zwei ersten Kapitel können als ein mehr argumentativer und das dritte und vierte Kapitel als ein mehr »vertiefender, die gewonnenen Erkenntnisse anwendender Teil« verstanden werden.
Der Vf. erörtert ausführlich den Inhalt des Wortes nous bei Paulus. Dabei ist »der Aspekt der menschlichen Befähigung zur Ur­teilsbildung und Entscheidungsfindung grundlegend« (230). Das an sich glaubwürdige Ergebnis passt gut zu seiner Interpretation des Halbverses 1Kor 2,16b. Wenn Christus der Gesinnung des Menschen die Richtung und das Kriterium gibt, so lebt der Mensch, wie er leben soll, also nach der Gesinnung Christi. Sie ist »eine von Chris­tus her bestimmte Beurteilungsfähigkeit ..., die in erster Linie für die Beantwortung ethischer Probleme relevant ist« (256). Bei der genauen Exegese des Inhalts der Kapitel kann der Vf. seine These untermauern und stellt dabei viele wertvolle Einzelanalysen im Text an. Nach der mehr theoretisch-christologisch-theologischen Betrachtung wird in den Kapiteln 5–14 an aktuellen Einzelfragen der korinthischen Gemeinde aufgezeigt, wie die Gesinnung Christi in Erscheinung tritt. Paulus argumentiert fast durchgehend in einer Art und Weise, die mit der Beurteilungsfähigkeit der Gesinnung Christi, wie sie in 1Kor 1– 4 vorgestellt wurde, in einem Zu­sammenhang steht. Die Gesinnung Christi erklärt sich als »die Sorge um das Allgemeinwohl, die Hochschätzung der Schwachen und die unbedingte Orientierung an der Liebe« (478).
Das Kapitel 15 mit dem Problem der Bedeutung der Auferstehung gehört nicht mehr zum ethischen Themenbereich. Hier geht es wieder um christologisch-kerygmatische Fragen wie in den ersten Kapiteln des Briefes. Auf dem Auferstehungsglauben, so zentral er auch ist, baut Paulus keine ethischen Anwendungen auf. Das tut er mit Hilfe der Kreuzeschristologie. Am Anfang und am Ende des Briefes finden wichtige christologisch-kerygmatische Ab­schnitte ihren Platz, und in der Mitte werden die ethisch-ermahnenden Ratschläge des Apostels vorgebracht. Auf diese Weise bekommt der Brief einen logischen Aufbau, und es ist leicht, dem Vf. zuzustimmen, dass der Brief eine ursprüngliche Einheit bildet.