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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

164–166

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gerber, Christine

Titel/Untertitel:

Paulus und seine ›Kinder‹. Studien zur Be­ziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. XVII, 576 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 136. Lw. EUR 148,00. ISBN 978-3-11-018478-5.

Rezensent:

Stefanie Lorenzen

Die an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichte Habilitationsschrift beschäftigt sich mit der Frage, wie Paulus mit Hilfe von Metaphern – insbesondere aus dem Bereich der Familie – die Beziehung zu seinen Gemeinden konstruiert. Die umfangreiche, gründliche Arbeit gliedert sich in drei Teile: Nachdem die hermeneutischen, forschungsgeschichtlichen und methodischen Voraussetzungen geklärt sind, geht es zunächst um die Bedeutung dreier Selbstbezeichnungen des Apostels. Anschließend gibt G. einen Überblick über die paulinischen Rollen- und Beziehungsmetaphern. Im letzten Teil werden drei Texte exemplarisch analysiert. Die Arbeit endet mit einer Thesenreihe, die übergreifende Einsichten bündelt. Sehr erleichtert wird das Verständnis durch klar strukturierte und gut lesbare Zusammenfassungen.
Eine wichtige hermeneutische Prämisse, die zugleich eine Stärke der Arbeit ausmacht, stellt die Konzentration auf die Textwelt im Unterschied zur extratextuellen, »historischen« Wirklichkeit dar. Dementsprechend geht G. streng textorientiert vor, um die in den Briefen erkennbaren Beziehungsentwürfe herauszuarbeiten. Gegen verallgemeinernde Deutungen der paulinischen Gemeindebeziehungen im Sinne eines feststehenden Beziehungskonzeptes grenzt sie sich ab und betont stattdessen die situative Verortung der einzelnen Metaphern. G. weist nach, dass die bislang in der Forschung für die Beziehung zwischen Paulus und seinen Gemeinden vorgeschlagenen Rollenvorbilder nicht überzeugen, dass die paulinischen Metaphern also eine semantische und konzeptionelle Lü­cke schließen und damit eine katachrestische Funktion besitzen: Sie benennen und gestalten eine Beziehung, die bislang ohne Vorbild und daher ohne Namen ist.
Der Arbeit liegt ein Metaphernverständnis zu Grunde, das Elemente verschiedener Ansätze (z. B. Eco, Weinrich, Ricœur, Kognitivismus) in sich vereint: Danach erfolgt die Rezeption einer Metapher durch Aktivierung der mit Eco sog. Enzyklopädie, d. h. des Hintergrundwissens des Modell-Lesers. Es besteht aus dem Wissen um die mit den Metaphern verbundenen Konzepte sowie aus der Kenntnis verwandter Metaphern, also des Bildfeldes (nach Weinrich) bzw. der Konzeptmetapher. Gerade in der expliziten Vernachlässigung dieser Metapherntradition, also der klassischen begriffsgeschichtlichen Fragestellung, liegt ein Charakteristikum der Arbeit: Sie favorisiert dagegen das Verständnis der Einzelmetapher vor dem Hintergrund des antiken Alltagswissens, was oft neue Einsichten bringt. Die Metapherntradition wird nur dort abgerufen, wo dies explizit angezeigt oder aber hilfreich ist.
Der zweite Teil beginnt mit der Analyse dreier Selbstbezeichnungen des Apostels: ἀπόστολος, διάκονος und δοῦλος Χρισ­τοῦ. Besonderes Interesse verdient dabei die These, dass es sich bei den Ausdrücken ἀπόστολος, ἀποστολή etc. entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht um »Oberbegriffe« für das paulinische Wirken handele.
Stattdessen arbeitet G. eine ganz spezifische Be­deutung heraus: Als Apostel gelten Paulus offenbar nur diejenigen Missionare, die das Evangelium an Nichtchristen verkündigen, d.h. die »Erstverkündiger«, die mit dieser Aufgabe durch eine Christusvision betraut sind und nach vollbrachter Tat wieder weiterreisen. Ihnen komme auch das Unterhaltsrecht zu. Weder beinhalte der Terminus eine christologisch fundierte Repräsentationsfunktion noch müsse Paulus seinen Apostolat jemals verteidigen. Anders steht es mit der Bezeichnung διάκονος: Sie referiere auf den von Gott beauftragten Vermittler des Evangeliums. Diese Tätigkeit sei nicht auf die Erstverkündigung beschränkt und könne daher auch bereits bestehenden Gemeinden gelten. Mit dem Ausdruck δοῦλος Χριστοῦ kennzeichne Paulus schließlich seine besondere Christusbeziehung, die andere Herren als Christus ausschließe. Sein Verhältnis zur Gemeinde spiele hier keine Rolle. Die Analyse dieses Terminus ist – ebenso wie der Überblick über die von Paulus verwendeten »Beziehungsmetaphern« – sehr informativ, trägt aber für den Fortgang der Arbeit wenig aus.
Der dritte Teil widmet sich drei Textstellen ausführlich: Untersucht werden die Mutter- bzw. Ammen- und Vatervergleiche in 1Thess 2,7–12, die Vatermetapher in 1Kor 4,14 f. und die Gebärmetapher in Gal 4,19. Beachtenswert ist hierbei die originelle und philologisch begründete These zum Vergleich des Paulus mit einer nährenden Amme, die ihre eigenen Kinder – im Gegensatz zu fremden – umsonst pflegt. G. deutet dieses Bild in Abgrenzung zur Sekundärliteratur nicht als Ausdruck der besonderen Liebe und des Autoritätsverzichts, sondern als Veranschaulichung des apostolischen Unterhaltsverzichts. Das Bild des guten Vaters, der seine noch unmündigen Kinder in den religiösen Traditionen unterweist, diene dagegen dazu, die Vorbildhaftigkeit und Verlässlichkeit der paulinischen Lehre zu untermauern. Dieser Vergleich transportiere daher nicht, wie meist interpretiert, väterliche Liebe, sondern eher patriarchalische Autorität, die sich auf einen Vorsprung an Kompetenz gründe. Mit Hilfe dieser Familienfiktion – so die These von G. – wird die christliche Gemeinde samt ihren Missionaren zu einer Art endzeitlicher »Ersatzfamilie« für die christlichen Konvertiten.
In 1Kor 1–4 argumentiert Paulus vor dem Hintergrund der Parteienstreitigkeiten in Korinth gegen eine Orientierung an weltlichem und menschlichem Status und setzt dagegen sein Wort vom Kreuz. G. weist neben dieser allgemein anerkannten diskursiven Ebene eine zweite, verstecktere Argumentationslinie nach, in der Paulus sich selbst mit Hilfe verschiedener Metaphern als die für die Gemeinde maßgebende Autorität zeichne. Der dadurch entstehende vermeintliche Widerspruch zwischen nichtstatusbezogener Kreuzestheologie einerseits und exklusivem Autoritätsanspruch andererseits löst sich nach Ansicht von G. auf, wenn Paulus zwischen seiner sozialen Niedrigkeit und seiner religiösen Autorität unterscheide. Letztere stütze er auf seinen Status als Gründungsvater. Die Vatermetapher im Schlussappell 4,14–21 stellt für G. schließlich den hermeneutischen Schlüssel für den gesamten Briefabschnitt 1Kor 1–4 dar: Paulus werbe für eine Lösung des Parteienstreites durch eine umfassende Orientierung an seiner Person. In angemessener Nüchternheit betont G. diesen exklusiven Autoritätsanspruch gegenüber einer Tendenz in der Sekundärliteratur, stattdessen den kreuzestheologisch fundierten Statusverzicht herauszustellen.
Als Letztes widmet sich die Arbeit der Gebärmetapher in Gal 4,19. Wird sie in der Exegese üblicherweise mit Schmerzen und Liebe assoziiert, arbeitet G. im Gegensatz dazu ihre Bedeutung als Versinnbildlichung der Kraftanstrengung heraus, die es Paulus kostet, um »seine« Galater zu kämpfen. Wenn Paulus davon spreche, dass er die Galater »wieder« (πάλιν) gebäre, dann sprenge das den Rahmen der Metaphorik und verweise auf eine Regression der galatischen Reife. Die Galater sind offenbar in einen vorgeburtlichen, d. h. präbaptismalen, Zustand zurückgefallen, weil sie das Gesetz als heilsgültig anerkennen. Ziel der Geburtsarbeit des Paulus sei es dagegen, sie wieder »christusförmig« werden zu lassen: Die Galater sollen sich also, so die These, wieder mit Christus statt mit dem Gesetz identifizieren. Bei dieser physiognomisch vorgestellten Identität (vgl. 484) handele es sich um eine sichtbare Veränderung, die sich in der Lebenspraxis niederschlage und im Gegensatz zur Beschneidung stehe. Auf die interessante Frage, wie sich diese anscheinend somatisch vorgestellte Sichtbarkeit zeigen könnte, geht G. leider nicht näher ein.

Saarbrücken Stefanie Lorenzen