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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

150–151

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rey-Stocker, Irmi

Titel/Untertitel:

Anfang und Ende des menschlichen Le­bens. Aus der Sicht der Medizin und der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. M. 13 Abb.

Verlag:

Basel-Freiburg-Paris-London-New York-Bangalore-Bangkok-Singa­pore-Tokyo-Sydney: Karger 2006. XIV, 283 S. gr.8°. Lw. EUR 34,50. ISBN 978-3-8055-8012-0.

Rezensent:

Michael Lippold

Der Titel der 2004 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) eingereichten und nun in überarbeiteter Fassung vorliegenden Dissertation der Schweizer Gynäkologin Irmi Rey-Stocker lässt zunächst die Frage aufkommen, auf welche Weise die ungeheuer komplexe Thematik um Lebensbeginn und Lebens­ende des Menschen abgehandelt wird, da schon die jeweiligen Teilaspekte eine schier unüberschaubare Fülle an spezifischer Literatur aufzuweisen haben, was erst recht dann geltend zu machen ist, wenn eine vergleichende Darstellung von medizinethischer und auf die drei abrahamitischen Religionen bezogener Perspek­tive avisiert ist. Eine diesbezügliche Fragestellung antizipierend stellt R.-St. in ihrem Vorwort klar: »Diese Studie ist interdisziplinär. Sie versucht, den Anfang und das Ende des Lebens sowohl aus medi­zinischer Sicht als auch aus dem Blick der vergleichenden Religionswissenschaft anzugehen. Dabei beschränkt sie sich auf die wichtigsten allgemein anerkannten Aussagen der Medizin und berück­sichtigt die traditionellen Ausrichtungen der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die im Nahen Osten entstanden sind und unsere westliche Kultur auf vielfältige Weise beeinflussen.« (XI)
R.-St. geht aber noch grundsätzlicher vor, indem sie in einem ersten (1–40) der insgesamt vier Hauptkapitel einleitend die Frage stellt, wie Leben überhaupt zu definieren ist, und hier sowohl philosophische als auch naturwissenschaftliche Hypothesen zur Darstellung bringt, die bis zur ursprünglichen Entstehung des Lebens auf der Erde zurückreichen. Im Stile einer Zeittafel wird die diesbezügliche naturwissenschaftliche Sicht auf den Seiten 24–29 tabellarisch veranschaulicht. Das zweite Kapitel (41–109) ist der Entstehung, der Geschichte und den Grundlagen des Monotheismus in den drei Religionen gewidmet, wobei die jeweiligen spezifischen Quellentexte als Basis der Ausführungen herangezogen werden. Neben dem Umgang mit den heiligen Büchern Tora, Bibel und Quran unterscheiden sich die drei Religionen vor allem in der Gewichtung der mündlichen Tradition (Halacha, Sunna), während R.-St. bezüglich der Gründung der Ethik auf die »Goldene Regel« ein verbindendes Element aller drei Religionen zu erkennen meint. Erst im dritten Kapitel (111–217) wird die im Titel angekündigte Thematik verhandelt, wobei R.-St. auch hier, von der Dis­kussion um die Frage des Lebensbeginns ausgehend, über neuere medizinische Reproduktionstechniken, den Schwangerschaftsabbruch bis hin zu Hirntodproblematik und Transplantationsme­dizin einen weiten Bogen schlägt und die zugehörige jeweilige Sichtweise der drei Religionen aus Grundsatzdokumenten und Stellungnahmen eruiert. Diese inhaltlich sehr weit gefächerte Darstellung ist von einer bemerkenswert verknappenden Art und einer (wohltuend) sachlichen Distanz allen drei Religionen gegenüber geprägt; ihre Fähigkeit zur Systematisierung erweist R.-St. zusätzlich dadurch, dass hier – wie auch in den beiden Kapiteln zuvor – am Ende der jeweiligen Abschnitte ein »Vergleich« erfolgt, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Religionen bezüglich des jeweils dargestellten Sachverhalts charakterisiert. Das vierte Kapitel (219–230) lässt die Zielrichtung der Studie erkennen, wenn Besonderheiten im Umgang mit jüdischen, christlichen und muslimischen Patienten abgehandelt werden; es wird gleichsam ein Handlungsmanual für medizinisches Personal hinsichtlich des Sachverhalts entworfen, über welche speziellen Merkmale und Bräuche (Gebet, Speise, Fasten, Sterben) die jeweiligen Kranken verfügen – im Prinzip geht es um die Respektierung des religiösen Patienten im Krankenhausalltag einer säkularisierten Gesellschaft. Ein nochmaliger systematisierender Vergleich (V), eine Zusam­menfassung in dreisprachiger Version (VI), eine tabellarische Übersicht, die die Stellung der Religionen zu den medizinethischen Problemen systematisiert (VII), und ein umfangreicher Anhang mit Quellentexten der Religionen und Literaturverzeichnis (VIII) schließen die Arbeit.
Es ist zweifellos gerechtfertigt, R.-St. – wie in einem Geleitwort von W. Holzgreve geschehen – ob dieses Mammutunternehmens als eine »mutige Persönlichkeit« zu bezeichnen, die sich durchgehend einer sachlichen Darstellungsweise verpflichtet weiß und sich jeglicher Wertung enthält bzw. sie dem Leserkreis überlässt. Die komprimierte Art der Darstellung wirft jedoch zwangsläufig Fragen auf, wie die nach den Auswahlkriterien der herangezogenen Quellentexte und nach deren häufig indirekter Wiedergabe im Text, was das oft verwendete Kürzel »Vgl.« in den (nur auf ungeraden Seiten platzierten) Fußnoten ausweist. Insbesondere in der nochmals verknappten tabellarischen Systematisierung der drei Religionen (VII) stößt diese Verfahrensweise an Grenzen, wenn Positionen zu be­stimmten medizinischen Sachverhalten im Ja-Nein-Schema um­rissen werden. Speziell der dem Protestantismus eigenen Pluralität wird dieses Vorgehen nicht gerecht; die Anerkennung der Hirntoddefinition, die Zulassung der Xenotransplantation und die Bejahung der Präimplantationsdiagnostik beispiels weise sind beileibe nicht so unumstritten, wie das dort einge­tragene Ja nahelegt. Verblüffend sind die benannten zahlreichen Ge­meinsamkeiten von Judentum und Islam (zum Beispiel Um­gang mit Schriftrollen, Verhalten an dem Sterbebett, Gebets- und Begräbnisbräuche, Verbot des Essens von Schweinefleisch bei gleichzeitiger Zulassung der Xenotransplantation).
Insgesamt bietet die Dissertation einen sehr informativen Über­blick über die drei Religionen mit ihrer gemeinsamen Wurzel im Hinblick auf ihre Stellungnahme zu aktuellen medizinethischen Problemen; ihren Wert bezieht sie insbesondere aus der Originärität des durchgeführten vergleichenden Projekts. Für den interreligiösen Dialog in einer multikulturellen Gesellschaft ist die nachvollziehbar gestaltete Offenlegung von Denkstrukturen und Argumentationsmustern auf jeden Fall von hohem Gewicht.