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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

148–150

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pieper, Irene, Schimmelpfennig, Michael, u. Joachim von Soosten [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Häresien. Religionshermeneutische Studien zur Konstruktion von Norm und Abweichung.

Verlag:

München: Fink 2003. 188 S. gr.8° = Kulte/Kulturen. Kart. EUR 24,00. ISBN 3-7705-3803-X.

Rezensent:

Siegfried Wiedenhofer

Das Buch ist im Rahmen des Symposiums »Norm und Abweichung« des Graduiertenkollegs »Religion und Normativität« an der Universität Heidelberg entstanden (20). Haben die Konstruktion von Häresien und deren paradoxe Folgewirkungen für das frühe Christentums eine große Rolle gespielt, so sei es eine Frage, ob es Vergleichbares auch in außereuropäischen Religionskulturen gibt, ob sich der Gegensatz von Orthodoxie und Häresie in der Moderne auflöst oder nur in neue Bereiche einwandert und ob es gegenwärtige alternative Modelle gibt, die seitens der Orthodoxie zu einer innerreligiösen Kultur der Toleranz beitragen können (7).
Die Herausgeber skizzieren zunächst selbst ganz kurz die Entstehung des frühchristlichen Häresiebegriffs (7–12). Dann wird allerdings nur eine, wenn auch sehr wichtige Schnittstelle abgedeckt: der mittelalterliche Wandel vom altkirchlichen Begriff von Häresie (subjektive Auswahl aus dem Glaubensgut) zu einem neuen Begriff von Häresie (Abweichung von kirchlicher Autorität und Kontrolle); so in dem Beitrag von Lucy E. Bosworth, The Changing Concept of Heresy in Western Europe, 12th–13th Centuries (21–38). Als interreligiöse Vergleichsbeispiele fungieren der Aton-Kult in Ägypten (dazu wiederholt Jan Assmann, Echnaton – Paradigma einer gescheiterten Häresie?, 39–51, seine These von der hier erfolgenden Erfindung der Unterscheidung von wahr und falsch, weswegen die Amarna-Religion keine Häresie, sondern eine Gegen-Religion sei), der Zen Buddhismus und die buddhistische Tachikawa Schule (Bernard Faure, Heresies in East-Asian Buddhism, 53–65; Häresie sei hier nicht Abfall vom wahren Glauben oder wahrer Praxis, sondern Hybridisierung bestimmter buddhistischer Begriffe, die Anderswerdung der buddhistischen Orthodoxie selbst) und schließlich die mittelalterliche chinesische Laienbewegung Weißer Lotus (Barend J. ter Haar, Whose Norm, whose Heresy? The Case of the Chinese White Lotus Movement, 67–93; der Häresiebegriff, wenn man davon sprechen kann, sei hier eher rhetorischer als analytischer Natur). Für das Schicksal des Häresiebegriffs in der säkularisierten Moderne stehen zwei Beispiele: eine Faust-Interpretation von Cyrus Hamlin, Faust und der Erdgeist: Goethes radikale Transformation der Teufelsbeschwörung, 95–114 (Faust als Tra- gödie des Idealismus; die Erdgeist-Szene als Paradigma für die exis­ten­tielle Krise des Individuums bei der Begegnung mit der unmittelbaren Allmacht der Natur als Grundproblem des eigentlichen tragischen Schicksals des Menschen), eine Deutung der subversiven Imagination der Romantik (Friedrich Schlegel, Hölderlin, Novalis) bei Karl Heinz Bohrer, Metaphorik und Häresie: Die ro­mantische Entstellung des Geistes, 115–135 (die Innovation der romantischen Imagination als eine Art säkularisierter Häresie).
Inwiefern aus der Mitte religiöser Traditionen selbst heute eine Überwindung eines gefährlichen Häresiebegriffs erfolgen kann, bleibt weitgehend unbeantwortet. Der Islam-Beitrag von Mahmoud Zakzouk, Zum Problem der Häresien in der islamischen Geschichte, 137–149, bietet eine historische Übersicht und bezieht sich dann nur noch auf eine Veröffentlichung zur Religionsfreiheit, die nicht verboten worden ist (148 f.); der ansonsten sehr anregende Beitrag von James A. Sanders, Canon as Dialogue (67–93,) nimmt die Häresiefrage nicht wirklich auf (152) und der Beitrag von Jochanan Edgar Bauer, »Häresie«: Religionskritische Thesen zur Auflösung des Begriffs im Geiste des Judentums, 169–188, der die Marranen, Spinoza, Heine, Kafka und Simone Weil als jüdische Überwinder des christlichen Häresiebegriffs versteht, erscheint mir doch als sehr diskussionsbedürftige Interpretation (der Geist des Judentums reduziert auf den Nomadismus Abrahams, 186 f.).
Der Sammelband will exemplarische Beiträge zur Klärung des Häresiebegriffes bieten. Dies tut er in qualitätvoller und weiterführender Weise, nicht zuletzt auch durch die erweiterte Perspektive, die interreligiöse Vergleiche und moderne säkularisierte Variationen einbezieht. Die Beiträge sind mindestens anregend und herausfordernd. Der Band zeigt auch, wo die Diskussion weitergehen muss. Verschiedentlich setzt man sich von einem angeblich eindeutigen christlichen Häresiebegriff ab. Dieser bleibt trotz des wichtigen Beitrags von Lucy E. Bosworth und der einleitenden Bemerkungen der Herausgeber ziemlich blass, die Krise des mittelalterlichen Häresiebegriffs im 16. Jh. wird im Übrigen ganz ausgeblendet. In Wirklichkeit gibt es m. E. ebenso wenig einen einheitlichen christlichen Häresiebegriff wie in anderen Religionen. Es ist vielmehr ein komplexer spannungsvoller Begriff, dessen Bedeutung ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen historischen Kontexte und pragmatischen Situationen und auch der Logik des jeweiligen religiösen »Systems« nicht geklärt werden kann.