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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

114–115

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Liedhegener, Antonius

Titel/Untertitel:

Macht, Moral und Mehrheiten. Der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos 2006. 509 S. 8° = Jenaer Beiträge zur Politikwissenschaft, 11. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-8329-1915-3.

Rezensent:

Mariano Barbato

Die Rückkehr der Religionen in die Politik gehört aktuell zu den viel diskutierten Themen. Antonius Liedhegener liefert mit seiner 2005 in Jena als Habilitationsschrift zugelassenen Studie eine empirische wie normativ fundierte Argumentation, die aufweist, dass Religion und Politik auch in den modernen Demokratien nicht zu trennen sind und nicht zu trennen waren. Die politikwissenschaftliche Arbeit – L. verfügt zusätzlich über eine theologische Ausbildung – kombiniert qualitative und quantitative Verfahren, bedient sich aber auch der historischen Forschung.
Normativ legt L. dar, dass entgegen der These von Casanova (ganz zu schweigen von der laizistischen Position, die L. als historisch überholten »Irrglauben einer bestimmten Traditionslinie der kontinentaleuropäischen Aufklärung« [17] ansieht) religiöse Ak­teure nicht auf die zivilgesellschaftliche Diskussion reduziert werden können. Es entspricht vielmehr einer wertgebunden Demokratie, dass diese Akteure ihre Agenden auch im zentralen Bereich der politischen Entscheidungsfindung einbringen dürfen. Mit Böckenförde, dem sich L. anschließt, hängt staatliche Politik von moralischen Grundlagen ab, die sie nicht selbst hervorbringen kann. Moral gehört aber nicht nur in den Vorraum der Politik, sondern soll diese gestalten. Damit kann Moral sich jedoch nicht der Machtfrage enthalten, sondern muss sich dieser stellen. In Demokratien geschieht dies über die Organisation von Mehrheiten. Aus dieser Argumentation ergibt sich der Buchtitel.
Während L. kein demokratietheoretisches Problem in der Ak­tionsweise der beiden Katholizismen seiner deutsch-amerikanischen Vergleichsstudie sieht, deckt er binnenkirchliche Schwächen auf: Während es in Deutschland dem Katholizismus gelungen ist, eine innerkirchliche Polarisierung zu vermeiden, wird die in zwei etwa gleich starke Lager gespaltene US-amerikanische Ortskirche von Flügelkämpfen aufgerieben. Relativ hoch, so L.s These, ist deswegen die Durchsetzungsfähigkeit des deutschen Katholizismus, relativ gering die des US-amerikanischen.
Der Katholizismus wird nach L.s Definition dann zum politischen Katholizismus, »wenn Katholiken, katholische Gruppen oder Organisationen als solche bewusst und mit geeigneten Mitteln versuchen, auf die Entscheidungen über die für alle Gesellschaftsmitglieder verbindliche Zuweisung von immateriellen und materiellen Werten Einfluss zu nehmen« (33). Der politische Katholizismus steht dabei in den individualisierten Gesellschaften der Moderne vor zwei zentralen Problemen: Die Auflösung der Milieus führt zu einer Verschiebung von den Laien hin zur Amtskirche als dem letzten verbliebenen (relativ) einheitlich organisierten politischen Akteur. Inhaltlich resultiert aus den Konfliktlinien der Mo­derne für die Kirchen ein noch tiefergehendes Problem: »Im bürgerlichen Lager finden die Kirchen Beifall für ihre Bekenntnisse zu Ehe, Familie und Moral. Mit der Linken nehmen sie Partei für die sozial Schwachen und für die armen Länder. Aber das volle christ­liche Programm – Sittenstrenge plus Nächstenliebe – hat so recht keinen politischen Abnehmer« (242).
Die umfangreiche Studie gliedert sich in vier Hauptteile. Im ersten werden die historischen Rahmenbedingungen erarbeitet. Die Zäsur des Zweiten Vatikanischen Konzils begründet dabei zusammen mit dem Modernisierungsschub der 1960er Jahre den Zeitrahmen der Studie. Im zweiten und dritten Teil werden die Strukturen, Akteure und Aktionen analysiert. In diesem Herzstück der Arbeit liefert L. einen kenntnis- und detailreichen Vergleich der beiden Katholizismen, für den er eine umfangreiche Datenauswertung vorgenommen und eine Vielzahl von Interviews geführt hat. Im vierten Teil belegt L. seine Thesen im Vergleich der Fallbeispiele Lebensschutz und Sozialpolitik.
Auf Grund dieser auch zeitgeschichtlich gut zu lesenden Gegenüberstellung müsste jedoch eingewendet werden, dass der von L. behauptete Erfolg des deutschen Katholizismus, insbesondere beim Lebensschutz, sich lediglich als ein relativer gegenüber dem US-amerikanischen darstellt. Insbesondere weil, wie auch L. einräumt, andere Faktoren, wie die unterschiedliche höchstrichterliche Rechtsprechung, die jeweils gegenteilige politische Mehrheiten stoppte, eher ausschlaggebend waren als das mehr oder weniger geschlossene Auftreten eines gemäßigt geeinten oder pointiert po­larisierten Katholizismus.
Trotz Einwänden im Detail, wer sich mit dem politischen Ka­tholizismus in der Bundesrepublik Deutschland oder den USA auseinandersetzen möchte, der wird an L.s Studie nicht vorbeikommen und kann sicher sein, dass die Lektüre Gewinn bringend sein wird.