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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1015 f

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Die Tosefta. Seder II: Moëd. 2: Schekalim –­ Jom ha-kippurim. Übers. u. erkl. v. F. G. Hüttenmeister u. G. Larsson.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. VI, 361 S. gr.8° = Rabbinische Texte, 1. Reihe, Bd. II/2. Lw. DM 448,­. ISBN 3-17-013615-1.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Die von K. H. Rengstorf begründete und seit 1993 von G. Mayer herausgegebene Tosefta-Übersetzung ist mit diesem Band um ein bedeutendes Stück gewachsen. F. G. Hüttenmeister, seit seinen Bearbeitungen der Jeruschalmi-Traktate Schekalim, Megilla und Demai derzeit in Deutschland wohl die kompetenteste Autorität auf dem Gebiet der Übersetzung rabbinischer Texte, hat Schekalim übertragen. Jom ha-Kippurim hat der schwedische Judaist und Theologe G. Larsson bearbeitet, der wie Hüttenmeister seine judaistische Grundausbildung am Institutum Delitzschianum in Münster empfing. Beide Übersetzungen gehen auf Dissertationen zurück (1970 bzw. 1980), die für die vorliegende Ausgabe überarbeitet und ergänzt wurden.

Schekalim handelt von der Erhebung der Schekelsteuer, die der erwachsene Israelit jährlich in Höhe einer Doppeldrachme (= 1/2 Schekel) zu entrichten hatte, weiter von der diesen Einkünften entnommenen "Kammerhebe", aus der die öffentlichen Opfer und sonstiger Bedarf des Tempels bezahlt wurden, und vom Verfahren der Entlohnung der am Tempel beschäftigten Handwerker. In diesen durch die Mischna vorgegebenen Aufriß fügen sich exkursartig Seitenthemen wie die amtliche Markierung von kultisch unreinem Gelände (I 4-5), die Annahme von Opfern und Spenden von Nichtjuden (I 7; III 12), ein Verzeichnis von Tempelbeamten und deren Zuständigkeiten (II 14-15), das Schicksal der Bundeslade nach der Tempelzerstörung (II 18), die Vorhänge im Tempel (III 13-15) und die Dienstvorbereitung der Priester, Leviten und Mitglieder des Sanhedrin (III 25-27). Nicht nur für die Religions-, auch für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Spätzeit des Zweiten Tempels ist der Traktat eine wichtige Quelle.

Jom ha-Kippurim, der längere der beiden Traktate, behandelt das Tempelritual des Versöhnungstages. Er faßt sich oft kürzer als Mischna Joma, bietet aber zusätzlich außer halachischen Spezialerörterungen eine Reihe von Fallberichten (ma’asim), die bei aller legendenhaften Übertreibung lebhafte Eindrücke von Realität und subjektiver Wahrnehmung des Tempelkults in herodianisch-römischer Zeit vermitteln. Erzählt wird von einem Totschlag aus Konkurrenzneid unter Priestern (I 12), von eifersüchtig ihre Betriebsgeheimnisse hütenden Handwerkerfamilien (II 5-8), davon, wie ein Hoherpriester zu lange im Allerheiligsten verweilte (III 5) und ein anderer am Festvorabend durch den Speichel eines Königs verunreinigt wurde (IV). Ausführlicher als in der Mischna ist vor allem das Schlußkapitel, das sich mit dem befaßt, was auch über die Tempelzerstörung hinaus in Kraft steht: das strenge Kasteiungsgebot, von dem nur Schwangere, Kinder und Kranke befreit sind (V 1-5), und die Sühnewirkung des Versöhnungstages, die bei leichten Vergehen allein von der Reue des Sünders abhängt, bei schwereren Sünden aber nur unter züchtigendem Leid und im Extremfall erst mit dem Tod des Schuldigen eintritt (V 5-16).

Der deutsche Übersetzungstext wirkt angesichts des spröden halachischen Hebräischs der Vorlage erstaunlich flüssig und ist durchweg gut lesbar. Als Textbasis dient wie üblich die Erfurter Handschrift (was nur leider nirgends einführend mitgeteilt wird); wo deren Text Verderbnisse aufweist, wird in der Regel nach Hs. Wien korrigiert. Bedeutungsrelevante Lesarten, die ja bei einer Übersetzung durchaus von Interesse sind, werden ebenso notiert. Eine separate kritische Edition des zugrunde gelegten emendierten Textes ist geplant, doch da die maßgeblichen Textabweichungen in den Fußnoten verzeichnet sind, läßt sich die Übersetzung auch anhand der Ausgaben von Lieberman und Zuckermandel problemlos nachvollziehen.

Vor welche Schwierigkeiten die Texüberlieferung mitunter stellt, mag Jom ha-Kippurim III 8 illustrieren. Hier heißt es, der Hohepriester solle, wenn er mit dem Opferblut das Allerheiligste betritt, davon "an den Vorhang gegenüber den zwei Stangen der Lade" sprengen. Nach der Mischna aber wird der Vorhang nicht vom Allerheiligsten, sondern vom Hek.al aus besprengt (V 4). Larsson nimmt ­ wohl zu Recht ­ an, daß die Tosefta hier zwei verschiedene Vorgänge, die Sprengung im Allerheiligsten und die Sprengung an den Vorhang, irrtümlich vermischt, wobei sie anschließend noch beschreibt, wie der Hohepriester das Allerheiligste wieder verläßt. Dennoch greift Larsson ­ wiederum zu Recht ­ in den überlieferten Text nicht ein, sondern folgt ihm in seiner Übersetzung und beschränkt die Diskussion auf die Anmerkungen (148 und 154).

Das Hauptgewicht liegt jedoch bei den ausführlichen Erläuterungen zu lexikalischen und halachischen Fragen und zum historischen Hintergrund. Dabei zeichnet sich der vorliegende Band insofern aus, als die Bearbeiter neben der Mischna als der Basis der Traditionsbildung nicht nur vorrabbinische Quellen zur Erhellung der geschichtlichen Gegebenheiten, sondern auch die spätere rabbinische Literatur als Spiegel der Rezeption hinzuziehen, von den Talmuden bis hin zu Maimonides. Auf diese Weise entsteht ein geradezu beispielhaftes Kommentarwerk.

Hüttenmeister hat Schekalim eine mehrseitige Einleitung vorangestellt, die einen historischen Abriß von den biblischen Anfängen der Steuerpraxis bis zu dem von Rom erhobenen fiscus Iudaicus umfaßt. Larsson diskutiert im Anhang zu Jom ha-Kippurim in Exkursen einige Spezialprobleme, darunter Name und Lage der "Parhedrin"-Kammer, die Amtstauglichkeit der Hohenpriester in herodianischer Zeit, die Zahl der Vorhänge vor dem Allerheiligsten und die Aufstellung der Bundeslade nach 1Kön 8,8. Detaillierte Sach- und Stellenregister und eine Liste häufig zitierter Literatur beschließen den in jeder Hinsicht gelungenen Band.

Zu bemängeln bleiben nur Kleinigkeiten: S. 36-37: "anderes" und "anderen" sollte in eckigen Klammern stehen. ­ S. 81: Vor "Zehnt, mit Ausnahme" ergänze "[Zweiter]". ­ S. 81, S. 152: "Das sind" sollte nicht eingeklammert sein. ­ S. 180: Vor "zugewandt.32" ergänze "zugewandt. Und der Hohepriester [hatte] sein Gesicht dem Heiligtum". ­ S. 181: Lies "[dafür] zum Lob". ­ S. 185, Anm. 60: Statt hebr. "BTWLH" lies hebr. "KTWBH". ­ S. 191-199: Die sinngemäße Übersetzung von "bet ’abba" erfordert ein Possesiv, also "unsere Familie" bzw. "meine Familie". ­ S. 228f.: Der Zusatz in spitzen Klammern stammt aus Hs. Wien, die Namensform "Eli’ezer" aus dem Erstdruck. ­ S. 271: Hinter "Heiligtum" ergänze: "eine Benediktion für sich und über die Israeliten". ­ S. 286: Die beiden Fragen wären richtiger als Aussagen zu übersetzen, beginnend mit "Und dies" und endend mit einem Doppelpunkt. ­ S. 294: Die Übersetzung "hat er sie übergangen" usw., die offenbar eine Auslassung im Sündenbekenntnis meint, ist reizvoll und wahrscheinlich richtig, aber das herkömmliche, durch die Parallelen nahegelegte Verständnis ("hat er sie [sc. die alten Übertretungen erneut] begangen") sollte doch angemerkt werden.